Venezuela:Befreiungsschlag im Morgengrauen

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Mit seinem Aufruf zum Aufstand gegen das Maduro-Regime hat Interimspräsident Guaidó wieder einmal alle überrascht. Das Land erlebt dramatische Stunden.

Von Benedikt Peters, München

Hand drauf: Überläufer aus der venezolanischen Nationalgarde schließen sich in Caracas den regimekritischen Demonstranten an. (Foto: Christian Hernandez/AFP)

Irgendwann in den vergangenen Tagen muss sich Juan Guaidó entschieden haben, alles auf eine Karte zu setzen. Das wird den Venezolanern klar, als seine Unterstützer am Dienstag, gegen sechs Uhr früh, ein Video ins Internet stellen. Zu sehen ist der 35-jährige Oppositionsführer, umgeben von ein paar Soldaten, er blickt entschlossen in die Kamera. Er sagt, dass nun "der Moment" gekommen sei, in dem das venezolanische Volk seine Angst besiege und den Machtwechsel einläute. Der Himmel über Caracas, so ist es in dem Video zu sehen, wird langsam hell.

Die Botschaft verbreitet sich blitzartig im ganzen Land und weltweit in den Medien. Das liegt auch an dem Mann, den Guaidó wie beiläufig rechts am Bildrand platziert hat. Es ist Leopoldo López, einer der bekanntesten und umstrittensten venezolanischen Oppositionellen. Er soll die Verantwortung für schwere Krawalle tragen, und er gilt als politischer Ziehvater Guaidós. Die Maduro-Regierung hatte ihn unter Hausarrest gestellt, und Guaidó hat ihn an diesem Morgen mit Hilfe einiger Soldaten befreien lassen.

Juan Guaidó war ja schon für einige Überraschungen gut. Wohl niemand hatte damit gerechnet, dass er am 23. Januar, auf einer Kundgebung, plötzlich den Arm zum Schwur erheben und sich selbst zum Präsidenten ernennen würde, da der autokratische Herrscher Nicolás Maduro alle Legitimität verloren habe. Auch sein Versuch, das venezolanische Militär mittels humanitärer Hilfslieferungen aus den USA auf seine Seite zu bringen, war zumindest kreativ. Mit seiner Befreiungsaktion im Morgengrauen hat er wieder einmal alle überrascht. Und er riskiert damit endgültig, selbst eingesperrt zu werden - vielleicht auch Schlimmeres.

Guaidós Kalkül ist es, mit der Aktion genügend Venezolaner auf die Straße zu bringen, um Maduro aus dem Präsidentenpalast zu jagen. Vor etwa einem Monat hatte er die "Operation Freiheit" ausgerufen, eine Serie von Demonstrationen überall im Land, die schließlich in einem Marsch auf Caracas münden sollten. Es kamen zwar Zehntausende und auch mal mehr als hunderttausend Menschen, doch die Proteste konnten nicht genug Durchschlagskraft entwickeln, um wirklich etwas in Venezuela zu verändern. Für die finale Phase der "Operation" also musste etwas ganz Besonderes her.

In seiner Videobotschaft behauptete Guaidó, das venezolanische Militär werde nun zu ihm überlaufen, die Soldaten im Hintergrund sollten wie ein Beleg dafür wirken. In den turbulenten Stunden am Dienstag, die Venezuela daraufhin erlebte, zeigte sich aber, dass das zunächst nur Wunschdenken war. Zwar gab es einige Deserteure, so wie es sie auch in den vergangenen Monaten schon gegeben hat. Sie kennzeichneten den Seitenwechsel durch blaue Binden an ihren Uniformen. Die Armeeführung und die überwiegende Mehrheit der Soldaten aber stand vorläufig weiter zu Maduro. "Ich habe mit den Kommandanten (aller Militärzonen) des Landes gesprochen. Sie haben ihre Loyalität zu Volk, Verfassung und Vaterland ausgedrückt", schrieb der Herrscher auf Twitter. Bei einer seiner zuletzt selten gewordenen Fernsehansprachen am Dienstagabend dankte er der Militärführung für ihren "Mut".

In Caracas raste ein Wagen der Sicherheitskräfte in eine Menschenmenge

Zuvor hatte Venezuela dramatische Stunden erlebt, mit Szenen, die manchmal wirkten, als herrsche Bürgerkrieg. Nach Guaidós Videobotschaft zogen seine Unterstützer durch die Straßen mehrerer Großstädte, es kam zu Zusammenstößen mit dem Maduro-treuen Militär und den colectivos. So nennen sich Maduros Unterstützer, die in bewaffneten Gruppen organisiert sind. Es flogen Steine, es fielen Schüsse, und dann war da noch dieser weiße Panzerwagen, der an der Plaza Altamira mitten in Caracas auf die Demonstranten zufuhr. Der Wagen raste in die Menge, die Menschen rannten auseinander. Einer oder zwei von ihnen waren nicht schnell genug, auf Videos ist das nicht genau zu erkennen. Sie blieben wohl verletzt liegen.

Mindestens 69 Verwundete, so lautete die Bilanz der venezolanischen Protestwelle am Dienstag. Doch es stand zu befürchten, dass es noch schlimmer kommen würde. Für den Mittwoch hatte die Opposition um Juan Guaidó neue Proteste angekündigt, Nicolás Maduro wollte mit Gegenprotesten reagieren.

Neben den Kämpfen auf der Straße tobte auch ein Kampf der Propaganda. Vorläufiger Höhepunkt war die Behauptung des US-Außenministers Mike Pompeo, Maduro habe am Dienstag schon per Flugzeug nach Kuba fliehen wollen. Dann aber habe die russische Regierung den Machthaber davon überzeugt, in Caracas zu bleiben. Der Kreml dementierte umgehend. Trumps Sicherheitsberater John Bolton sagte, drei Mitglieder des Führungszirkels um den Staatschef hätten beschlossen, die Seiten zu wechseln, darunter Verteidigungsminister Vladimir Padrino. Der aber erschien bald darauf im Staatsfernsehen und sagte, Guaidós Aufstand sei zum Scheitern verurteilt.

Ob der Minister Recht behält, könnte sich in den nächsten Tagen zeigen. Ein Erfolg für Guaidó ist immerhin, dass Manuel Figuera inzwischen zu ihm übergelaufen ist. Figuera ist der Chef des Geheimdienstes Sebin, seine Leute sollten eigentlich den Oppositionsführer Leopoldo López im Hausarrest bewachen, was sie offenkundig nicht taten.

Der Machtkampf in Venezuela hat sich so noch einmal zugespitzt, und es könnte sein, dass in den nächsten Tagen eine Entscheidung bevorsteht. Guaidó hat nun endgültig alles riskiert. Gegen ihn laufen mehrere Strafverfahren, der Oberste Gerichtshof hat seine Immunität aufgehoben, die ihm als Parlamentspräsidenten eigentlich zusteht. Der 35-Jährige Interimspräsident könnte sich bald im Gefängnis wiederfinden - wenn sein Kalkül nicht doch noch aufgeht.

© SZ vom 02.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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