Unruhen in China:Frust entlädt sich in Gewalt

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Mindestens 140 Tote bei den Unruhen in der westchinesischen Provinz Xinjiang: Der Konflikt zwischen Uiguren und Han-Chinesen eskaliert. Er rückt einen seit vielen Jahren schwelenden Konflikt ins Blickfeld - die internationale Gemeinschaft hat bisher oft weggeschaut. Ein Gespräch mit Experten.

Barbara Vorsamer

140 Tote und mehr als 800 Verletzte en einem Tag: Nach den blutigen Unruhen blickt die Welt besorgt nach China. In der Provinz Xinjiang spielten sich bürgerkriegsähnliche Szenen ab. Wie genau es dort letztendlich zur Eskalation der Gewalt gekommen ist, ist noch unklar.

Die Unruhen belegten erneut das große Konfliktpotential zwischen Han-Chinesen und Uiguren, sagt Gudrun Wacker, China-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): "Die Uiguren sind frustriert und wütend über die Diskriminierung, die sie erfahren."

Nach Angaben von Augenzeugen begannen die Proteste als friedliche Kundgebung von einigen hundert Uiguren. Sie forderten die Untersuchung eines Konflikts zwischen uigurischen und han-chinesischen Arbeitern in Guangdong im vergangenen Monat. Bei der Auseinandersetzung in Shaoguan in der Südprovinz waren zwei Uiguren getötet und 118 Menschen verletzt worden. Dieser Konflikt wiederum hatte sich an Berichten entzündet, wonach sechs Uiguren zwei Han-Chinesinnen vergewaltigt hätten.

"Vorgänge, wie sie bedauerlicherweise seit vielen Jahren in der Provinz Xinjiang immer wieder vorkommen", urteilt Eberhard Sandschneider, Direktor des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), über die Vorgeschichte der aktuellen Ausschreitungen - und fügt hinzu: "Xinjiang ist seit vielen Jahren ein Unruheherd und es kommt regelmäßig zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Uiguren und den chinesischen Sicherheitskräften."

Neu ist, dass sich Meldungen wie die über die Vorfälle in Guangdong rasend schnell über SMS und Internet verbreiten - auch im restriktiven China. "Dass Nachrichten von den etablierten Medien zurückgehalten werden, nützt der chinesischen Regierung nicht mehr viel", sagt Expertin Wacker.

Daher glaubt die China-Forscherin auch nicht an die Version der chinesischen Regierung, die den separatistischen Weltkongress der Uiguren unter Rabiya Kadeer für die Unruhen verantwortlich macht. "Die chinesische Regierung macht immer das Ausland verantwortlich, das ist ein etabliertes Muster", sagt sie. Heutzutage sei ein Aufruf aus dem Exil jedoch gar nicht mehr notwendig.

Kadeer macht ihrerseits Peking verantwortlich. Die Uiguren-Frage habe einen kritischen Punkt erreicht, und die Regierung müsse nun handeln, heißt es in einer Erklärung. Die von China als "Terroristin" verteufelte Aktivistin sagte weiter: "Dieser Zwischenfall hätte verhindert werden können, wenn die chinesischen Behörden die Morde (in Guangdong, Anm. d. Red.) richtig untersucht hätten".

Doch Beobachter sind sich einig, dass die Zwischenfälle nur der Auslöser waren - der Grund für die Unruhen sei die massive Diskriminierung. Als Beispiele für die jahrzehntelange Benachteiligung der Uiguren nennt Wacker ein chinesisches Buch von 1989 über die Sex-Praktiken der muslimischen Bevölkerung - aber auch die Einschränkung bestimmter Freiheitsrechte wie die Ausübung religiöser Bräuche und wirtschaftliche Benachteilung.

"Das wirtschaftliche Wachstum Chinas schafft neue Probleme, gerade in den Regionen, in denen überwiegend Minderheiten leben, wie Xinjiang und auch Tibet", erklärt die Expertin. "Die wirtschaftliche Entwicklung führt zum Zuzug von mehr Han-Chinesen, was die anderen Ethnien weiter zurückdrängt. Zudem sind diese vom Fortschritt oft ausgeschlossen oder partizipieren nur mittelbar daran, zum Beispiel weil sie nicht gut genug Chinesisch sprechen."

Daher strebe die muslimische Minderheit der Uiguren nach mehr Autonomie - und darauf, sagt Experte Sandschneider, reagiere die chinesische Regierung äußerst empfindlich, das gelte für Tibet genauso wie für Xinjiang. "Bei Souveränität und Einheit des chinesischen Staates kennt Peking keine Kompromisse."

"Separatistische Strömungen"

Vor allem seit den neunziger Jahren gibt es auch gewaltsame separatistische Strömungen innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung der Uiguren. Mehrere Anschläge während der Olympischen Spiele 2008 in Peking wurden Extremisten zugeschrieben.

"Seit dem 11. September 2001 hat es die chinesische Regierung geschickt verstanden, die Autonomiebewegung der Uiguren, die mehrheitlich islamischen Glaubens sind, in die Nähe des internationalen Terrorismus von al-Qaida zu rücken", erläutert Sandschneider. "Deswegen hat auch die internationale Gemeinschaft oft über gewaltsame Auseinandersetzungen in Xinjiang hinweggesehen. Zu sehr war man der Meinung, dass alles, was den internationalen Terrorismus bekämpft, gut ist."

Hier werden aber oft zwei Dinge in einen Topf geworfen, die gar nicht zueinander gehören, so Sandschneider. "Man kann die Aufstände der Uiguren in Teilen durchaus als terroristische Akte bezeichnen. In der Zielsetzung sind sie jedoch nicht dem islamistischen Terror zuzuordnen." Das heiße jedoch nicht, dass es da keine Kontakte gäbe: "Es gibt im Kontext von al-Qaida durchaus Mittäter uigurischer Herkunft, die aber wiederum nicht den lokalen Unabhängigkeitskämpfern zuzuordnen sind."

Eine Abspaltung Xinjiangs hält Sandschneider für "weitgehend ausgeschlossen". Erstens sei die Region wirtschaftlich nicht ohne weiteres lebensfähig, zweitens sei ein erfolgreicher Sezessionskrieg der Uiguren gegen China völlig utopisch. "Auch der Westen wird sich hier nicht einmischen", sagt der DGAP-Experte.

Hinsichtlich der internationalen Reaktion auf die aktuellen Unruhen rät Wacker zur Vorsicht: "Der Anlass der aktuellen Demonstration war kein politischer - die Uiguren haben nicht für mehr religiöse Freiheit protestiert. Deswegen sollte die internationale Gemeinschaft nicht mehr tun, als ihr Bedauern zu äußern und die chinesische Führung zur Mäßigung aufrufen."

Sandschneider sieht ebenfalls keine Möglichkeit für die internationale Gemeinschaft, einzugreifen - "außer mit knackigen Formulieren an die chinesische Regierung zu appellieren, nicht mit äußerster Gewalt vorzugehen."

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