Krieg in der Ukraine:Schicksalsschlacht um den Donbass

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Satellitenaufnahme von Popasna, das etwa 50 Kilometer entfernt von Sjewjerodonezk liegt und vor der Einnahme durch die Russen zerstört wurde. (Foto: Maxar Technologies/AP)

An Sjewjerodonezk hänge das Los des ganzen Donbass, sagt Präsident Selenskij. Erbittert kämpfen die Ukrainer dort gegen die deutliche russische Übermacht.

Von Joshua Beer, München

Sjewjerodonezk entstand einst als sowjetische Siedlung um die Chemiefabrik Azot, es wurde benannt nach dem Fluss Siwerskyj Donez, der es von der Nachbarstadt Lyssytschansk trennt. Inzwischen ist die ostukrainische Stadt weltbekannt, seit mehr als drei Wochen liegt sie im Fokus des russischen Angriffskriegs, und in den vergangenen Tagen sind die Kämpfe noch intensiver geworden. An die Schlacht um Sjewjerodonezk knüpft der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij den weiteren Verlauf des Krieges: "In vielem entscheidet sich dort das Schicksal unseres Donbass."

Der besteht aus den östlichen Regionen Donezk und Luhansk. Sjewjerodonezk liegt an Luhansks westlicher Grenze und bildet dort die letzte Bastion der ukrainischen Armee, die sich dorthin zurückgezogen hat. Sie steht unter heftigem Beschuss, es soll Straßenkämpfe geben, die russische Armee hat die Verteidiger in die Außenbezirke und das Industrieviertel zurückgedrängt. "Es ist unmöglich zu sagen, dass die Russen die Stadt komplett kontrollieren", sagt Serhij Gajdaj, der Militärgouverneur von Luhansk.

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Die Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk in der Ostukraine gehen weiter. Nachdem Kiew Teile zurückerobern konnte, machen nun die russischen Truppen wieder Boden gut.

Die Russen haben offenbar zehnmal mehr Material in der Stadt

Allerdings scheinen die Verteidiger heillos unterlegen. Das Verteidigungsministerium der Ukraine schätzt, dass die Russen zehn Mal mehr Ausrüstung in der Stadt haben. Ihr Beschuss zielt vor allem auf die ukrainisch kontrollierten Gebiete. Militärgouverneur Gajdaj teilte am Donnerstag mit, die Chemiefabrik Azot sei getroffen worden, die Hunderten Zivilisten als Schutzbunker diene. Vier Menschen seien umgekommen.

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Trotz allem hielt die Verteidigung noch. Am Mittwoch schrieb das britische Verteidigungsministerium: "Es ist unwahrscheinlich, dass eine der beiden Seiten in den vergangenen 24 Stunden erheblich an Boden gewonnen hat." Laut ukrainischen Medien griffen die russischen Soldaten weniger an, sondern versuchten vielmehr, die Verteidigung "auf Schwachpunkte zu testen".

Prorussische Separatisten schießen in der Region Luhansk mit einer Haubitze auch Kartuschen mit Propagandamaterial in Richtung Sjewjerodonezk. (Foto: Alexander Ermochenko/Reuters)

Das umfasst offenbar auch psychologische Kriegsführung. Der Geheimdienst der Ukraine berichtete, ukrainische Kämpfer erhielten Drohnachrichten auf ihre persönlichen Handys: Aufforderungen, die Waffen niederzulegen, aufzugeben oder zum Feind überzulaufen. Die Botschaften kämen per SMS, Messengerdienst wie Whatsapp oder Telegram, und sie verwendeten Lokalisierungsdaten, um den Soldaten und ihren Familien mit Gewalt zu drohen. So wolle Russland die Kampfmoral der Ukrainer senken, sagte ein ukrainischer Militärexperte. Den Verteidigern solle weisgemacht werden, Sjewjerodonezk sei "das nächste Mariupol".

Sjewjerodonezk komplett einzukesseln wie Mariupol ist Russlands Militär aber noch nicht gelungen. Doch kündigt sich eine humanitäre Katastrophe an. Denn es sollen sich noch etwa 10 000 Zivilisten in der Stadt befinden, wie Bürgermeister Olexander Strjuk am Donnerstag meldete. Und es sei nicht mehr möglich, die Stadt zu evakuieren. Insgesamt halten sich Schätzungen zufolge um die 15 000 Zivilisten in Sjewjerodonezk und Lyssytschansk auf. Vor dem Krieg lebten hier etwa 200 000 Menschen.

In der Azot-Chemiefabrik suchen Zivilisten schon Mitte April in Sjewjerodonezk Zuflucht vor dem russischen Beschuss. Sie soll nun getroffen worden sein. (Foto: Marko Djurica/Reuters)

Dass sich der Krieg so auf Sjewjerodonezk zuspitzt, hat Gründe. Präsident Selenskij nennt die Stadt "Epizentrum der Konfrontation im Donbass". Die Schlacht um sie sei "wahrscheinlich eine der schwierigsten des Krieges". Strategisch sind Sjewjerodonezk und Lyssytschansk bedeutend, weil die russische Armee mit ihrer Eroberung an die Verwaltungsgrenze von Luhansk stoßen und die Region somit kontrollieren würde. Zudem würde sie Zugriff auf weitere Gebiete und Städte im Donbass erhalten. Etwa auf die wichtige Industriestadt Kramatorsk im Oblast Donezk, die noch in ukrainischer Hand ist.

An sich ist Sjewjerodonezk laut ukrainischen Beratern strategisch nicht übermäßig wichtig. Militärexperten gehen davon aus, Kriegsziel der Ukraine sei es, die russische Armee in verlustreiche Kämpfe zu verwickeln und ihr so langfristig zu schaden. Aber mehr wiegt womöglich Sjewjerodonezks symbolische Bedeutung: Mit der Stadt würde nicht nur die letzte ukrainische Bastion der Region fallen, manche halten sie auch für den Ausgangsort des prorussischen Separatismus - am 28. November 2004 drohten dort Delegierte der russlandtreuen "Partei der Regionen", den Donbass abzuspalten.

Zehn Jahre später riefen Separatisten dann die "Volksrepubliken" Luhansk und Donezk aus. In letzterer sind gerade zwei Briten und ein Marokkaner, die für die ukrainischen Streitkräfte gekämpft hatten, zum Tode verurteilt worden, wie am Donnerstag bekannt wurde.

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