Machtkampf in der Ukraine:Kommandeur auf Abruf

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Gilt als aussichtsreicher politischer Konkurrent des amtierenden Präsidenten: General Walerij Saluschnyj. (Foto: GENYA SAVILOV/AFP)

Wolodimir Selenskij will offenbar seinen obersten General feuern. Walerij Saluschnyj beurteilt die militärische Lage der Ukraine anders als der Präsident. Doch das ist nicht der einzige Grund für die Rivalität.

Von Florian Hassel, Belgrad

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij will offenbar seinen militärischen Oberkommandierenden entlassen, General Walerij Saluschnyj. Das melden ukrainische und westliche Medien. Lediglich der Zeitpunkt der Entlassung scheint unklar zu sein.

Zuerst meldeten die Internetzeitung Serkalo Nedeli ( ZN.ua ) und der Chefredakteur des Nachrichtenportals Censor.net am Montag, Selenskij habe sich mit General Saluschnyj getroffen und diesem mitgeteilt, dass er ihn entlassen werde. ZN zufolge habe der Präsident seinem höchsten General vorgeschlagen, selbst seinen Rücktritt einzureichen - dies habe Saluschnyj abgelehnt. Dem englischen Economist zufolge soll Saluschnyj auch abgelehnt haben, Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates zu werden. Ein Mitarbeiter des Generalstabs hatte dem Kyiv Independent am Montag gesagt, Saluschnyj sei bereits gefeuert worden. Dies haben der Sprecher des Präsidenten und das Verteidigungsministerium allerdings dementiert.

Selenskij bestand auf der Verteidigung Bachmuts, Saluschnyj war dagegen

Der Präsident kann den militärischen Oberkommandierenden per Erlass entlassen, allerdings ist dafür zunächst ein formeller Antrag des Verteidigungsministers erforderlich. Es ist unklar, ob dieser Antrag auf Entlassung Saluschnyjs bereits eingereicht und der Erlass bereits ausgefertigt, aber noch nicht veröffentlicht ist - oder ob beide Schritte noch bevorstehen. Verteidigungsminister Rustem Umjerow hat die Frage, ob er die Entlassung bereits beantragt habe, bislang nicht beantwortet.

Saluschnyj, ein 50 Jahre alter Karriereoffizier, ist seit Juli 2021 der militärische Oberkommandierende aller ukrainischen Streitkräfte. Seitdem war er in strittigen militärischen Fragen mehrmals anderer Meinung als der Präsident, der nomineller Oberkommandierender ist. Einer im Januar erschienenen Selenskij-Biografie des US-Journalisten Simon Shuster zufolge hatte Saluschnyj dem Präsidenten in den Monaten vor Beginn der russischen Großinvasion im Februar 2022 zu einer umfassenden Mobilisierung aller Reservisten und Verstärkung der Grenzen zu Russland geraten. Selenskij, der die Wahrscheinlichkeit eines russischen Angriffs bis zuletzt öffentlich bestritt, lehnte dies als alarmistisch ab.

Nach Beginn der russischen Invasion ließ der Präsident dem militärischen Oberkommandierenden allerdings weitgehend freie Hand. Unterschiedlich sahen Selenskij und Saluschnyj aber nach einem Jahr Krieg die Notwendigkeit der Verteidigung der strategisch unbedeutenden Stadt Bachmut im Osten der Ukraine: Saluschnyj soll für einen Rückzug plädiert, Selenskij hingegen auf der Verteidigung Bachmuts bestanden haben - die sich dann als überaus verlustreich herausstellte. Auch die Chancen für die im Juni 2023 begonnene, gescheiterte Gegenoffensive im Süden der Ukraine soll Saluschnyj skeptisch beurteilt haben.

Saluschnyj sprach aus, was alle wussten

Anfang November 2023 sagte Saluschnyj dem Economist, was Beobachter schon seit Monaten feststellten: Der Krieg stecke "in einer Sackgasse". In einem begleitenden Essay schilderte er zwar, wie die Ukraine eine Überlegenheit herstellen könne, doch der Präsident war nicht besänftigt. Selenskij beharrte öffentlich darauf, der Krieg sei in keiner Sackgasse.

Zudem verweigerte sich der Präsident Saluschnyjs Forderung, für 2024 die Einberufung von bis zu einer halben Million Ukrainer anzuordnen. So wollte Saluschnyj sechsstellige Verluste an der Front ausgleichen und Hunderttausende von zwei Jahren Krieg erschöpfte Soldaten ablösen. Doch seine Autorität schien da bereits angeschlagen zu sein. Der Ukrajinska Prawda zufolge unterhält Selenskij seit Monaten an Saluschnyj vorbei Kontakte etwa zum Kommandeur der Landstreitkräfte oder zum Kommandeur der Luftwaffe.

Ausschlaggebend für die zunehmende Entfremdung beider Männer ist offenbar vor allem Saluschnyjs Status als potenzieller politischer Konkurrent. Eine Umfrage vom Dezember zeigt, dass 92 Prozent aller Ukrainer Saluschnyj vertrauen. Laut einer anderen Umfrage würde er bei einer hypothetischen Präsidentschaftswahl Selenskij nur knapp unterliegen - und im Parlament mit einer eigenen Partei die mittlerweile durch etliche Skandale diskreditierte Präsidentenpartei "Diener des Volkes" klar schlagen.

Bei der Entlassung des Oberkommandierenden soll es nicht bleiben

Sollte Selenskij seinen militärischen Oberkommandierenden tatsächlich entlassen, wäre das eine unpopuläre Entscheidung. In der Umfrage vom Dezember plädierten 72 Prozent der Befragten dafür, dass Saluschnyj militärischer Oberkommandierender bleibt. Im Falle seiner Entlassung würde ihr Vertrauen zu Selenskij leiden.

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Als mögliche Nachfolger Saluschnyjs gelten der Kommandeur der Landstreitkräfte, Oleksandr Syrskyj, oder der Chef des Militärgeheimdienstes HUR, Kyrylo Budanow, beide sind Generäle. Der Internetzeitung ZN zufolge stehen noch weitere Entlassungen und Neuernennungen in Militär und Politik an. Der Infodienst New Voice of Ukraine zitierte ein Mitglied des Sicherheitsausschusses im Parlament dahin gehend, dass der Präsidialapparat "Änderungen der gesamten Linie der Führung der Sicherheits- und Verteidigungskräfte" geplant habe.

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