Ukraine:Heftiger Streit um die "Punkte der Unbesiegbarkeit"

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Ein Rettungshelfer kocht Tee für Kinder im Heizzelt "Punkt der Unbesiegbarkeit" in Butscha bei Kiew. (Foto: Evgeniy Maloletka/dpa)

Während Russland die Infrastruktur der Ukraine massiv attackiert, flammt ein Konflikt zwischen Präsident Selenskij und Kiews Bürgermeister Klitschko wieder auf.

Von Florian Hassel, Warschau

Die ukrainische Führung hat vor neuen russischen Angriffen gewarnt. Zwar meldete der Energieversorger Ukrenergo, vier Fünftel der Stromversorgung seien wiederhergestellt, nachdem mehrere Atomkraftwerke wieder ans Netz gingen - nach der letzten russischen Angriffswelle waren am 23. November zwölf Millionen Ukrainer ohne Strom.

Ab sofort seien in den meisten Regionen Stromabschaltungen nur noch zeitweise nötig, um zu vermeiden, dass das Netz überlastet werde, sagte Präsident Wolodimir Selenskij am Sonntagabend. Doch gleichzeitig "wissen wir, dass die Terroristen neue Angriffe vorbereiten", sagte der Präsident.

Luftwaffensprecher Jurij Ignat zufolge müsse die Ukraine einmal pro Woche mit einem massiven russischen Bombardement ukrainischer Infrastruktur rechnen - so lange dauere es, um vorangegangene Angriffe zu analysieren und neue Ziele zu programmieren. "Solange sie Raketen haben, werden sie nicht aufhören", stimmte Präsident Selenskij auf weitere Attacken ein. "Die kommende Woche kann so schwer sein wie die letzte." Mit jedem Angriff auf ein ziviles Infrastrukturziel, vom Ersten Zusatzprotokoll zur Genfer Konvention ausdrücklich verboten, begeht Russland ein Kriegsverbrechen.

Seit der Präsidentenwahl hegen Selenskij und Klitschko eine Abneigung gegeneinander

Selenskij gab in der vergangenen Woche die Schaffung von gut 4000 Aufwärmpunkten bekannt - martialisch-patriotisch "Punkte der Unbesiegbarkeit" getauft - und belebte unerwartet einen Konflikt mit Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko wieder. Aus Kiew gebe es viele Beschwerden, dem Präsidenten zufolge gebe es nur beim Katastrophenschutz und dem Bahnhof funktionsfähige Aufwärmpunkte.

"Andere Punkte müssen noch verbessert werden, um es milde auszudrücken", sagte Selenskij am vergangenen Freitag. "Ich erwarte Qualitätsarbeit vom Büro des Bürgermeisters ... Bitte seid ernsthafter." Niemand weiß, warum Selenskij den populären Kiewer Bürgermeister gerade jetzt angreift. Doch beide sind sich seit Selenskijs Wahl zum Präsidenten im Sommer 2019 in Abneigung verbunden.

Klitschko wurde 2014 nicht nur Bürgermeister, sondern von Selenskijs Vorgänger Petro Poroschenko auch zum Chef der Verwaltung Kiews ernannte. Nach seiner Vereidigung zum Präsidenten versuchte Selenskij bald, statt des sich unabhängig gebenden Klitschko einen Gefolgsmann an der Spitze Kiews zu etablieren. Bei der Kommunalwahl im Herbst 2020 ließ Selenskijs Partei "Diener des Volkes" eine Gegenkandidatin gegen Klitschko antreten, die jedoch eine krachende Niederlage einfuhr.

Danach ließ die Justiz im Mai 2021 etliche Büros der Stadtverwaltung wegen angeblicher Korruption durchsuchen. Der damals von einem Jugendfreund Selenskijs geführte Geheimdienst SBU versuchte, den Bürgermeister unter Druck zu setzen. Selenskij, dessen Beliebtheit zu dieser Zeit sank, verzichtete danach auf eine Zuspitzung des Konflikts mit Klitschko.

Nach Kriegsbeginn am 24. Februar ernannte Selenskij einen General zum Chef einer Militärverwaltung Kiews. Der Stadtchef aber blieb Klitschko. Gegenüber dem Infodienst RBC wies Klitschko Selenskijs Kritik zurück, ohne den Präsidenten beim Namen zu nennen.

Klitschko pocht auf seine Unabhängigkeit. "Ich bin kein Untergebener"

Tatsächlich, so Klitschko, arbeiteten in Kiew schon 430 Aufwärmpunkte, und "Abgeordnete der Regierungspartei" gäben auch zu, dass "mit den Aufwärmpunkten alles gut ist" - nur um dann in sozialen Medien zu behaupten, alles sei schlecht. Tatsächlich könnten auch ein paar Hundert funktionierende Aufwärmpunkte nur einen Bruchteil der 3,3 Millionen Menschen aufnehmen, die sich dem Bürgermeister zufolge in Kiew aufhalten. Das Gleiche gilt freilich für andere Städte, die für Zehn- oder gar Hunderttausende Menschen nur wenige Aufwärmpunkte bereitstellen können.

Klitschko pochte auf seine Unabhängigkeit. "Ich bin kein Untergebener. Diejenigen, die jetzt beginnen, viel darüber zu sprechen, erinnere ich daran, dass es so etwas wie Selbstverwaltung gibt. Wenn sie noch keine Zeit hatten, das zu lernen, sollten sie jetzt lernen, was diese bedeutet." Auch die Chefs der Militärverwaltung hätten in Kiew "sehr wenig, praktisch keine Vollmachten". Diese lägen bei der Selbstverwaltung - sprich: bei ihm, Klitschko.

An der Front liefern sich Ukrainer und Russen seit dem Abzug der russischen Truppen aus Cherson heftige Artilleriegefechte - Bewegung aber gibt es zurzeit kaum. Kiew selbst ist bisher nicht zum Kriegsschauplatz geworden. Doch das müsse nicht so bleiben, warnte Klitschko. Putin wolle "die ganze Ukraine" - und Kiew, das Herz des Landes, "war und bleibt das Ziel des Aggressors. Wenn sie die Möglichkeit haben, werden sie auf jeden Fall versuchen, auf Kiew zu marschieren".

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