Krieg in der Ukraine:Hilfe ohne aufwendiges Verfahren

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Angekommen in Polen: Aus der ostpolnischen Stadt Chełm nahe der ukrainischen Grenze reisen die Menschen, die vor dem Krieg geflohen sind, weiter nach Warschau. (Foto: Bartlomiej Wojtowicz/EPA)

Bereits 1,5 Millionen Menschen sind aus der Ukraine geflohen, Zehntausende von ihnen haben in Deutschland Zuflucht gefunden. Wie werden sie versorgt?

Von Viktoria Großmann und Mike Szymanski, München, Berlin

Am elften Tag des Krieges in der Ukraine sind nach Zählungen der UN-Flüchtlingshilfsorganisation UNHCR bereits 1,5 Millionen Menschen aus dem Land geflohen. Es handle sich um die "am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg", erklärten die Vereinten Nationen. Das Nachbarland Polen hatte bis Sonntag etwa eine Million Menschen aufgenommen. Viele von ihnen seien jedoch schon weitergezogen in andere EU-Länder oder würden das noch tun, twitterte der polnische Migrationsforscher Maciej Duszczyk am Wochenende.

In Deutschland sind derzeit mindestens 38 000 Menschen aus der Ukraine registriert. "Da keine Grenzkontrollen stattfinden, kann die Zahl der nach Deutschland eingereisten Kriegsflüchtlinge tatsächlich bereits wesentlich höher sein", hieß es dazu aus dem Innenministerium.

Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) sichert den derzeit besonders von der hohen Zahl an Flüchtlingen betroffenen Bundesländern ihre Unterstützung zu. "Wir werden denen, die vor dem schrecklichen Angriffskrieg Putins aus ihrer Heimat fliehen, helfen", sagte sie am Sonntag der Süddeutschen Zeitung. "Es wird Sonderzüge für Geflüchtete von Berlin in die anderen Bundesländer geben."

"Wir wollen Leben retten. Das hängt nicht vom Pass ab."

Rheinland-Pfalz habe bereits Vorsorge getroffen. "Wir haben nicht zuletzt im Auswärtigen Ausschuss des Bundesrates bekräftigt, dass die Unterbringung der Geflüchteten eine Gemeinschaftsaufgabe ist." Jedes Land werde entsprechend eines Verteilungsschlüssels Menschen aufnehmen. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) hatte hier auf Unterstützung vom Bund gedrängt, weil Berlin zunehmend an seine Kapazitätsgrenzen komme. Seit Sonntag werden nun vom Hauptbahnhof, wo täglich Tausende Menschen ankommen, neu Ankommende mit Bussen in 13 andere Bundesländer gebracht.

Deutschland wird nach den Worten von Bundesinnenministerin Nancy Faeser alle Flüchtlinge aus der Ukraine unabhängig von ihrer Nationalität aufnehmen. "Wir wollen Leben retten. Das hängt nicht vom Pass ab", sagte Faeser der Bild am Sonntag. Der größte Teil der Geflüchteten seien Ukrainerinnen und Ukrainer. Menschen aus anderen Staaten, die in der Ukraine schon ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht hätten, brächten diesen Status mit. Auch sie müssten kein aufwendiges Asylverfahren durchlaufen.

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In Polen gehen viele ukrainische Kinder nun schon in polnische Schulen oder Kindergärten, wie etwa die Hauptstadt Warschau mitteilt. Viele Städte haben Unterkünfte bereitgestellt, sammeln und verteilen Sachspenden, haben Nottelefone eingerichtet und bieten auch psychologische Unterstützung an. In Lublin dürfen Kriegsflüchtlinge kostenlos im Nahverkehr fahren, die Ostseestadt Gdynia hat einen Stadtführer auf Ukrainisch verfasst, Kraków lässt die ukrainische Hymne aus Lautsprecheranlagen über den Dächern der Stadt erklingen. Auch in zwei Dienstvillen von Präsident Andrzej Duda wurden Flüchtlinge einquartiert.

Polen als "humanitäres Zentrum" für die Ukraine

Polen sei zu einem "humanitären Zentrum" für die Ukraine geworden, sagte Premier Mateusz Morawiecki bei einem Besuch an der Grenze am Samstag. Allein am Samstag hatten etwa 129 000 Menschen die acht Grenzstationen an der mehr als 500 Kilometer langen Grenze zwischen Polen und der Ukraine passiert - so viele, wie noch nie an einem Tag. Die Abfertigung sei so einfach wie möglich, sagte eine Sprecherin des Grenzschutzes der Nachrichtenagentur Reuters. "Es geht darum, die Identität der Personen zu bestätigen, Dokumente zu überprüfen und die Datenbanken zu kontrollieren, ob es sich nicht um gesuchte Personen handelt. Das dauert ein paar Minuten."

Angekommen auf polnischer Seite werden die meisten Menschen in einer der mittlerweile 30 Aufnahmestellen versorgt. Dort können sie klären, wie und wohin es weitergehen soll, erhalten medizinische Grundversorgung, einen Ruheplatz und vorübergehende Unterkunft.

Tausende Freiwillige sind im ganzen Land im Einsatz, doch es wird Kritik laut an der Organisation. Spendensammlungen seien unkoordiniert, Straßen in den Grenzorten seien verstopft, weil zu viele Menschen in Privatautos zu Hilfe eilten. Nicht nur an die Regierung richtet sich diese Kritik, sondern auch an Städte wie Warschau. Mehrere Hilfsorganisationen, die schon viele Jahre in Polen tätig sind, forderten in einem gemeinsamen Schreiben Warschaus Oberbürgermeister Rafał Trzaskowski dringend zur Zusammenarbeit auf, eine "solide Koordination" der Hilfsangebote sei dringend nötig. "Wir fordern Dialog und Zusammenarbeit mit erfahrenen Partnern - wie uns."

Klagen über Ungleichbehandlung

Wie aus den Daten des polnischen Außenministeriums hervorgeht, handelt es sich bei der Mehrheit der Flüchtlinge um ukrainische Staatsbürger. Es sind aber auch Menschen aus Usbekistan, Belarus, Indien, Nigeria, Algerien, Marokko, den USA und mehreren anderen Ländern darunter. Wie die polnische Regierung mitteilt, dürfen ausdrücklich alle Menschen die Grenze überqueren. Die Stiftung "Nasz Wybór" (Unsere Wahl), gegründet von Ukrainern in Polen, beklagt jedoch Ungleichbehandlung. Menschen anderer Nationalität würden aus Warteschlangen gedrängt, hätten Schwierigkeiten, in die Busse und Bahnen zu gelangen. "Im Namen der ukrainischen Gemeinschaft in Polen appellieren wir, allen Kriegsflüchtlingen Hilfe zu gewähren, unabhängig von ihrer nationalen oder ethnischen Herkunft."

Rumänien verzeichnete am Sonntag etwa 227 500 Geflüchtete, Ungarn mehr als 163 000. Fast 114 000 Menschen haben die Slowakei erreicht. Die Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, bat bei einem Treffen mit US-Außenminister Tony Blinken in Chișinău die internationale Gemeinschaft um Hilfe bei der Versorgung der Flüchtlinge. Seit Beginn des Krieges seien mehr als 250 000 Menschen aus der Ukraine über die Grenze gekommen. Die frühere Sowjetrepublik zählt selbst nur etwa 2,6 Millionen Einwohner.

© SZ/dpa/KNA/Reuters - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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