Ukraine-Krieg:Wie man eine belagerte Stadt versorgt

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Alles, was geht, und so schnell wie möglich: Am Bahnhof von Lwiw wird medizinisches Notfallmaterial von Ärzte ohne Grenzen in den Zug nach Kiew verladen. (Foto: MSF)

Tonnenweise Hilfe: Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder die WHO haben vorsorglich große Mengen medizinisches Material in der Ukraine deponiert. In abgeschnittenen Städten gehen Medikamente, Verbandszeug und OP-Ausrüstung dennoch zur Neige.

Von Andrea Bachstein, München

Ein Arbeiten gegen die Zeit sei es, sagt Christian Katzer, Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen (MSF). Sie waren vorbereitet, haben es geschafft, zum Beispiel in Odessa und im nun eingekesselten Mariupol Lager zu füllen, Krankenhäuser mit medizinischem Material zu beliefern wie Verbandszeug, Chirurgie-Kits, Medikamente, Narkosemittel. Nicht nur an Kriegsverletzte müsse man denken, auch an chronisch Kranke, die etwa auf Insulin angewiesen sind. Einen großen Transport brachte das MSF-Team auch in die ukrainische Hauptstadt Kiew, samt einer Art Pop-up-OP-Tisch, der überall schnell aufgebaut ist. Doch wie funktioniert das, lebensrettende Güter dahinzubringen, wo Menschen sie brauchen?

Mit einer Menge Logistik, wie Katzer erklärt. Und MSF hat Erfahrung aus vier Jahrzehnten Einsatz in Konflikten. Drei große Lager habe MSF in Europa, in Amsterdam, Ostende und Bordeaux, wo schon verzollt Vorräte warten, die sofort auf den Weg gebracht werden können. Per Lkw haben sie das Material von dort strategisch verteilt, als das Schlimmste sich abzeichnete, in Polen, Rumänien, Bulgarien, der Slowakei, Moldau. Einige Transporte seien direkt nach Lwiw gegangen, wo man Lager angemietet hat. Die westukrainische Stadt ist der große Knotenpunkt, auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlägt dort Hilfsgüter um.

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In einer groß inszenierten Rede im Moskauer Olympiastadion verteidigt der russische Präsident die Annexion der Krim vor acht Jahren. Plötzlich aber ist ein Schlagersänger zu sehen und zu hören - der Grund ist unklar. Später zeigt das Staatsfernsehen die Rede noch einmal in voller Länge.

Eine schnelle Maschinerie läuft da bei den Ärzten ohne Grenzen an, sogar mobile Kliniken haben sie geschickt. Das alles passiere, sagt Christian Katzer, in Absprache mit den ukrainischen Behörden, nicht jedoch direkt mit dem Militär. Dabei werde dann eingeschätzt, wie groß der Bedarf wo sei, "es soll ja nichts verschwendet werden". Es hilft, dass MSF seit Jahren in der Ukraine tätig ist, im Osten, etwa bei der Betreuung von HIV-Patienten. Und ein Netz einheimischer Mediziner informiert MSF. Auch die große WHO macht es so: Mit Organisationen vor Ort und dem Gesundheitsministerium kalkuliert man Lieferungen anhand örtlicher Daten, Risikoanalysen, Transportkapazitäten.

Eines der Symbolbilder des Kriegs in der Ukraine - eine verletzte schwangere Frau wird aus einer beschossenen Entbindungsklinik in Mariupol gebracht. Sie hat nicht überlebt, auch weitere Menschen wurden getötet. (Foto: Evgeniy Maloletka/dpa)

Nach Wegen, weiter Hilfe zu bringen und Fluchtmöglichkeiten zu schaffen, sucht derweil OCHA, die UN-Behörde für humanitäre Angelegenheiten. Amanda Pitt, im Ukraine-Einsatz für OCHA, schildert es der Süddeutschen Zeitung so: Man arbeite mit den Verteidigungsministerien Russlands und der Ukraine, um ein humanitäres Benachrichtigungssystem zu etablieren. Beide Seiten müssen bei solchen Vereinbarungen gleichzeitig informiert werden, um sichere Routen zu erhalten, mit ständiger Kommunikation über Zeitpläne und Bewegung von Lkw und Menschen. "Wir sind offen für alle Möglichkeiten", so Pitt.

In Mariupol fehlt es an allem

An der Einrichtung bisher angekündigter humanitärer Korridore seien die UN aber nicht beteiligt gewesen. Kaum einer kam tatsächlich zustande, deshalb kann auch nichts geliefert werden. Zu den verzweifelten Nachrichten etwa aus Mariupol zählt, dass nicht nur Essen und Wasser fehlen, sondern auch Medikamente und Medizinmaterial aufgebraucht sind. In Isjum etwa soll es genauso sein.

Etwa 100 Mitarbeiter, sagt Katzer, seien für MSF in der Ukraine, Ärzte, Pfleger, Logistiker. In Lwiw, Mariupol, Schytomyr oder Sjewjerodonezk. Auch in Kiew, wo sie bleiben sollen. Klar stehe die Sicherheit ihrer Leute und der Patienten an erster Stelle, das schränke die Bewegungsmöglichkeit gerade ein. Die Kollegen in Russland, sagt Katzer, würden das Verteidigungsministerium in Moskau über den Aufenthalt der MSF-Leute informieren. Ob sie das schützt, weiß er nicht.

Nach Kiew gibt es noch Wege. Bei der großen Lieferung von MSF am Sonntag vor zwei Wochen dorthin, sagt Katzer, habe sehr geholfen, dass die ukrainische Bahn anbot, das Material zu transportieren. Das sparte Zeit, und es passt viel rein in Güterwagons. Am Samstag kam das Material in Lwiw an, nachts haben sie es umgeladen auf den Zug, am nächsten Nachmittag konnten sie in der Hauptstadt 40 Kubikmeter lebensrettender Dinge entgegennehmen.

Material ist das eine, aber man muss es auch einsetzen können. MSF, sagt Christian Katzer, habe deshalb in Kiew und anderen Städten "Trockentrainings" gemacht in Krankenhäusern - wie man vorgehen muss bei mass casualties, Situationen also, in denen auf einmal sehr viele Verletzte eintreffen. Welche Räume eignen sich, wo liegt was, wer tut was, und ja, auch, was sind die Kriterien für Triage, wenn zu entscheiden ist, wer zuerst behandelt wird, wann es keinen Sinn mehr hat. Chirurgen, meist spezialisiert in einem engen Gebiet, werden instruiert, Schussverletzungen zu operieren. Möglichst viele sollten auch Kaiserschnitte beherrschen, das habe sich überall als wichtig erwiesen.

36 Tonnen brachte die WHO nach Lwiw

Auch die WHO teilt mit, dass mancherorts medizinisches Material zur Neige gehe. Auch sie hat versucht vorzusorgen, mit gewaltigen Mengen. 36 Tonnen haben sie am 5. März nach Lwiw zur Weiterverteilung gebracht. Drei Tage darauf gingen zehn Tonnen über Kiew in sieben Regionen. Am 12. März ließ die WHO je zehn Tonnen medizinisches Material und Medikamente nach Charkiw, Sumy, Dnipro, Cherson, Mariupol, Mykolaiw, Schytomyr, Saporischschja und Tscherkassy transportieren. Jede Lieferung sollte für 150 Verletzte und 15000 andere Patienten über drei Monate reichen. Neben dem üblichen Material nennt die WHO Sauerstoff und Sauerstoffgeräte, Material für Bluttransfusionen, Stromgeneratoren, Defibrillatoren, Monitore.

Doch Krankenhäuser sind nicht nur abgeschnitten, kriegsrechtswidrig werden sie von russischen Einheiten beschossen. Schon mehr als 100 Kliniken sind nach ukrainischen Angaben beschädigt, einige zerstört. Nicht nur das, der ukrainische Generalsstab teilte am Mittwoch mit, in Makijiwka, einer 350000-Einwohnerstadt bei Donezk, sei "die Lage in den örtlichen Krankenhäusern katastrophal, sie sind außerstande, Zivilisten medizinisch zu versorgen aufgrund fehlenden qualifizierten Medizinpersonals".

Die Gefahr von Seuchen wächst

Die WHO versucht zugleich mit den ukrainischen Behörden, die Gesundheitslage insgesamt zu überblicken, mit Hilfe von Clustern und 3-D-Karten. So soll möglichst schnell entdeckt werden, wenn eine Seuche ausbricht - noch eine Sorge der Experten, auch bei Ärzte ohne Grenzen. OCHA warnt, die Tuberkulose-Bekämpfung müsse weitergehen. In Mariupol und anderen Städten ist sauberes Wasser nicht mehr verfügbar. Die Menschen trinken Regenwasser, schmelzen Schnee, nutzen in ihrer Not Wasser aus Heizungsanlagen. Abkochen ist oft nicht möglich.

Das birgt Risiken, Durchfallerkrankungen, schlimmstenfalls Cholera. Darauf wies Kate White hin, Notfallkoordinatorin bei MSF. Man wisse wegen eines Ausbruchs 2011, dass das Cholera-Bakterium in der Region anwesend ist. Und Christian Katzer weist daraufhin, dass nicht nur verunreinigtes Wasser gefährlich ist, sondern genauso fehlendes - Kinder vor allem drohen zu dehydrieren wie auch geschwächte Menschen. Das ist lebensgefährlich. Ebenso könnten besonders Kinder durch die Kälte Lungenentzündungen entwickeln. Krieg, daran hat sich nichts geändert, tötet nicht nur an der Front.

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