Ukraine im Umbruch:"Europa ist mehr als ein Ort"

Sie nennen sich "Euromaidan", gingen für Europa auf die Straße. Nun versinkt ihr Land im Bürgerkrieg. Alya Shandra und andere Aktivisten erzählen von Europa und der Revolution.

Von Hannah Beitzer

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(Foto: Hannah Beitzer)

Sie gingen für Europa auf die Straße, rissen Tausende ihrer Landsleute mit. Nun versinkt ihr Land im Bürgerkrieg. Alya Shandra sammelt gemeinsam mit etwa 200 Freiwilligen Videos, Interviews und Artikel für die Seite "Euromaidan PR", die "russische Propaganda" über den Umbruch in der Ukraine bekämpfen soll. Was Europa und die Revolution im eigenen Land für sie und andere Aktivsten bedeuten, erzählen sie hier. Alya Shandra, 29 Jahre, Mitinitiatorin von "Euromaidan PR" Europa ist für mich ein Ort, an den man schwer hinkommt. Man muss schon jemand Besonderes sein, damit man nach Europa darf. Wir Ukrainer müssen immer beweisen, dass wir es wert sind, das finde ich schade. Klar, bei uns muss sich einiges ändern: Wir brauchen ein System, das die Bürger an den Entscheidungen beteiligt, das seine Entscheidungen transparent macht und in dem Politiker zur Verantwortung gezogen werden. Mit dem Sturz der alten Regierung haben sich zwar die Köpfe geändert, aber nicht das System. Deswegen dürfen wir noch nicht aufgeben. Das sind wir den Toten vom Maidan schuldig.

Ukraine im Umbruch

Andrey Samekhanov, 39 Jahre, arbeitet als Eventmanager

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(Foto: Hannah Beitzer)

Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bin ich mit 16 Jahren nach Deutschland gezogen, weil ich wissen wollte, wie es im Westen ist. Von 1992 bis 1997 habe ich in Frankfurt gewohnt, habe gearbeitet und studiert. Ich habe viel in der Musikindustrie gearbeitet und wollte das, was ich in Deutschland gelernt habe, in die Ukraine bringen. Aber dort war die Musikindustrie total korrupt, die Hälfte der Leute kriminell. Ich wollte etwas verändern, das hat mich 2004 schon auf den Maidan gebracht, während der Orangenen Revolution. Ich hatte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass so etwas nochmal passiert. Als es im Winter 2013 wieder losging, war ich auf Hochzeitsreise in Dubai und konnte es kaum glauben. Und ich habe schnell begriffen: Da geht es um mehr als nur eine engere Bindung zur EU. Es geht um die Frage: Will ich frei sein oder ein Sklave? Man könnte sagen: Die Leute in der Ukraine sind aufgewacht - und haben den Kaffee gerochen!

Ukraine im Umbruch

Olga Kozyrenko, 31 Jahre, besitzt ein Restaurant in Indien

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(Foto: Hannah Beitzer)

Ich bin in Kiew geboren, meine Mutter ist Russin, meine Großmutter Polin. Jetzt lebe ich in Indien und bin verheiratet mit einem Mann, der halb Portugiese, halb Franzose ist. Können Sie sich vorstellen, wie komisch mir all das vorkommt, was in der Ukraine gerade passiert? Als die Proteste im November anfingen, wollte ich sofort von Indien nach Kiew fliegen. Da hat mir mein Mann erst einmal meinen Pass weggenommen. Wir haben eine kleine Tochter, sie ist zwei Jahre alt. Er hatte Angst, dass ich nie wieder komme. Deswegen habe ich dann von Indien aus geholfen: Texte übersetzt, online Kontakt zu Leuten aufgenommen. Schon während der Orangenen Revolution 2004 war ich jeden Tag auf der Straße. Was sich im Vergleich zu damals geändert hat: Wir wissen nun, dass der Umbruch nicht schnell und einfach gehen wird. Ich glaube aber fest daran, dass man sich nur trauen muss, um alles zu erreichen, was man will.

Ukraine im Umbruch

Katerina Smirnova, 25 Jahre, arbeitet als Übersetzerin

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(Foto: Hannah Beitzer)

Europa ist für mich mehr als nur ein Ort, an den ich reisen kann. Es ist ein Ort, an dem ich mich frei fühle. Wir Ukrainer und die Europäer denken gleich, fühlen gleich und haben die gleichen Werte - wie kann es da sein, dass wir getrennt sind? Ich war schon 2004 während der Orangenen Revolution als Schülerin auf dem Maidan. Ich bin eine hoffnungslose Romantikerin und glaube daran, dass sich früher oder später etwas ändert. Aber dafür müssen wir Ukrainer in Europa akzeptiert werden. Die Leute im Westen müssen erkennen, dass wir uns geändert haben, dass wir nicht nur irgendwelche "Partner" sind, sondern ein Teil von Europa. Ich selbst habe polnische, deutsche, russische und ukrainische Wurzeln. Gerade deswegen denke ich auch: Es hat überhaupt keinen Sinn, was gerade passiert, ein Teil meiner Familie wohnt in Moskau. Soll mein Vater, der Russe ist, nun für die Ukraine gegen seine Familie kämpfen? Oder für Russland gegen uns?

Ukraine im Umbruch

Daria Sipigina, 19 Jahre, studiert englische Literatur

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(Foto: Hannah Beitzer)

Bevor die Proteste auf dem Maidan begannen, war ich überhaupt nicht politisch. Aber auf einmal hatte ich das Gefühl: Es passiert etwas, das groß werden kann. Zuerst bin ich einfach nur als Demonstrantin auf den Maidan gegangen, dann habe den Sanitätern dort als Freiwillige geholfen. Heute kann ich überhaupt nicht mehr über den Platz laufen, ich gehe immer durch die Unterführung. Zu sehen, wie da immer noch die abgebrannten Gebäude stehen, macht mich traurig. Gerade deswegen dürfen wir aber auch nicht aufhören. Inzwischen denke ich, dass das wichtigste ist, gegen die russische Propaganda zu kämpfen, international, aber vor allem in der Ukraine selbst. Einige meiner Freunde reden nicht mehr mit ihren Eltern, weil die Putins Propaganda glauben. Und umgekehrt hat ein Bekannter von mir erlebt, dass in seinem Dorf, als er vom Maidan zurückkam, die Leute auf den Boden geguckt haben, wenn er vorbeilief. Das kann doch alles nicht wahr sein.

Ukraine im Umbruch

Anna Danilova, 35 Jahre, arbeitet für einen internationalen Sportartikelhändler

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(Foto: Hannah Beitzer)

Europa bedeutet für mich, dass die Menschen sagen dürfen, was sie denken, ohne bestraft zu werden. Dass die Gesetze eingehalten werden. Unsere Gesetze hier sind eigentlich gar nicht so schlecht, nur hat sich die Regierung nicht daran gehalten. Die Leute glauben deswegen nicht mehr an die Politik, sie verstehen inzwischen - anders als während der Orangen Revolution 2004 -, dass der Umsturz ein langfristiges Projekt ist.

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