Türkei:Erdoğans Hilfpolizisten

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Seit einem Putschversuch 2016 soll Erdoğans Vertrauen zur Polizei erschüttert sein - hier schreitet er bei einer Gedenkveranstaltung zu diesem Anlass Mitglieder der Ehrengarde ab. (Foto: dpa)

Eine bewaffnete Truppe soll in der Türkei polizeiähnliche Befugnisse bekommen. Einige Medien warnen vor einer Sittenpolizei wie in Iran. Die Opposition spricht von einem "Putsch" gegen die Demokratie.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Mit dem Ausbau einer "Nachbarschaftspolizei" scheint der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan eine Art Parallelpolizei aufbauen zu wollen. Diese Woche schon soll der Ausbau der "Bekçi" genannten Truppe im Parlament beschlossen werden. Die "Wächter" als eine Art Laienpolizisten gibt es zwar schon seit 2016. Sie haben bisher aber begrenzte Befugnisse und eine geringe Mannschaftsstärke. Beides soll ausgebaut werden. Den Angaben des Innenministeriums zufolge hat die bewaffnete Truppe dann in Teilen polizeiähnliche Befugnisse.

Die "Hilfskräfte der Polizei", wie sie offiziell heißen, sollen nach Angaben des Innenministeriums uniformiert und bewaffnet sein, sie dürfen zur direkten Verhinderung von Straftaten Gewalt anwenden. Die Bekçis, die der Polizei "zuarbeiten" sollen, werden in Wohnvierteln, Parks und Einkaufszentren Ausweiskontrollen durchführen, Personen festhalten und "bedrohte oder gefährdete Frauen und Kinder" zu deren Sicherheit auf Polizeistationen bringen dürfen. Sie sollen jedoch keine Ermittlungen oder Verhöre durchführen und Tatorte sichern dürfen.

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Dem Einsatz vorausgehen soll eine psychologische Eignungsprüfung und eine Grundausbildung. Voraussetzung sind Abitur und Militärdienst. Gab es 2016 nur etwa 4000 Bekçis, sind es heute 21 000. Die Polizeidichte in der Türkei ist höher als etwa in EU-Staaten, wo ein Polizist auf rund 300 Bürger kommt. In der Türkei ist es einer pro 180 Einwohner.

Einsatz nach politischem Kalkül?

Die Opposition vermutet, dass Staatspräsident Erdoğan den bestehenden Institutionen Polizei und Gendarmerie seit dem Putschversuch von 2016 nicht vertraut und sich an ihnen vorbei eine loyale polizeiähnliche Truppe aufbauen will, die er nach politischem Kalkül einsetzen kann. Manche oppositionelle Medien warnen vor einer "Sittenpolizei" wie in Iran. Der unabhängige Oppositionsabgeordnete Cihangir Islam sprach vom Aufbau eines "Sicherheitsstaats": "Die Menschen werden überall behelligt werden, indem ihre Ausweise verlangt werden. Das Land wird mit Kontrollpunkten übersät werden."

Das innenpolitische Klima hat sich in den vergangenen Tagen spürbar verschärft. Die Opposition glaubt, dass der Staatspräsident mit dem Gedanken von Neuwahlen spielt und die Opposition massiv schwächen will. Dafür spricht die Festnahme von drei Parlamentariern vor wenigen Tagen. Zuvor war ihre parlamentarische Immunität vom Parlamentspräsidenten Mustafa Şentop überraschend und ohne Abstimmung im Plenum aufgehoben worden.

Leyla Güven und Musa Farısogulları von der prokurdischen HDP und Enis Berberoğlu von der sozialdemokratisch orientierten CHP waren in Gerichtsprozessen zwar rechtskräftig verurteilt worden, hatten aber vor Verfahrensende ihre Mandate im Parlament in Ankara angetreten. Umso unerwarteter kam der Entzug der Mandate. Şentop bezeichnete die Kritik an dem Vorgehen als "juristisch komplett inkompetent", die Urteile gegen die Politiker seien rechtskräftig. Die zwei HDP-Abgeordneten waren wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt worden; die Justiz erhebt den Vorwurf der Nähe zur als Terrororganisation eingestuften PKK immer wieder gegen HDP-Mitglieder.

Die Opposition vermutet eine Offensive gegen die Opposition

Der CHP-Vertreter Berberoğlu wurde wegen "Spionage" abgeurteilt. Er hatte der Zeitung Cumhuriyet Videomaterial über eine Geheimdienstaktion zugespielt, bei der 2014 Waffen für Milizen mit Lastwagen nach Syrien geschafft worden sein sollen. Während die HDP-Vertreter ins Gefängnis kamen, wurde der CHP-Politiker wegen den Corona-Gefahr in den Haftanstalten fürs Erste unter Hausarrest gestellt.

Die Opposition vermutet hinter den Inhaftierungen der Parlamentarier ebenso wie hinter dem Ausbau der Bekçi-Hilfspolizei eine Offensive Erdoğans gegen die Opposition. Er sehe, dass die Zustimmung für die Regierungskoalition aus der islamisch-konservativen AKP und der rechtsnationalistischen MHP sinke und sich die Wirtschaftslage durch die Corona-Krise weiter verschlechtern werde. Während CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu davor warnte, sich provozieren zu lassen, sprach die HDP von einem "Putsch gegen die parlamentarische Demokratie". Sie verwies darauf, dass den jüngsten Festnahmen bereits Amtsenthebungen - und teilweise Festnahmen - mehrerer HDP-Bürgermeister vorausgegangen seien.

© SZ vom 09.06.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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