Türkei:Putsch-Gerüchte als Druckmittel

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Die regierende AKP attackiert die Opposition.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Wird bedroht: Die Oppositionspolitikerin Canan Kaftancıoğlu. (Foto: Bulent Kilic/AFP)

Während sich in der Türkei ersten Anzeichen einer Corona-Entspannung zeigen, Friseure und Einkaufszentren wieder öffnen, und der Tourismusminister Hoffnung macht auf erste Gäste aus dem In- und Ausland, erhitzt sich das politische Klima: Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterstellt der Opposition "Putsch-Absichten". So wenig konkret die als Koalition regierenden Parteien AKP und MHP ihre Anschuldigungen ausführen, so explosiv ist die Wirkung. In einem Land, in dem der jüngste Versuch eines Militärputsches vor knapp vier Jahren blutig gescheitert ist, bewirkt das Wort Staatsstreich die größtmögliche Polarisierung.

Die ist offenkundig gewollt. Am deutlichsten zeigt sich dies in den Äußerungen einer islamistischen TV-Kommentatorin, die Erdoğans Gegnern mit Gewalt drohte. Allein ihre Familie habe das "finanzielle und spirituelle Potenzial", 50 Gegner zu töten, sagte Sevda Noyan in einem Fernsehinterview. "Wir stehen zu unserem Führer Erdoğan." Es gebe Listen. Allein in ihrem Wohnblock stünden drei, vier, fünf Namen darauf. "Ich sage es laut: Ich habe vor euch verräterischen Zombies keine Angst. Wenn ihr einen Putsch versucht, werdet ihr ein böses Ende nehmen!"

Auch wenn Äußerungen einer Figur wie Sevda nicht überbewertet werden dürfen, soll die Opposition - und insbesondere die sozialdemokratisch orientierte CHP als stärkste Gegenkraft - an offenbar allen Fronten und aus allen Ecken angegriffen werden. Die Gründe liegen auf der Hand: Auch wenn Umfragen in der Türkei mit Vorsicht zu genießen sind, zeigt sich, dass Erdoğans Koalition im Parlament derzeit keine neue Mehrheit zusammenbekommen würde. Der seit 20 Jahren regierende islamisch-konservative Politiker ist wegen der schlechten Wirtschaftslage derzeit nicht mehr so populär wie früher.

Und die Corona-Krise wird die Türkei, die sich von der jüngsten Wirtschaftskrise gerade zu erholen schien, in den Monaten nach der Pandemie weiter zurückwerfen. Die Lira verfällt rasant, die Währungsreserven sind zum guten Teil verbraucht, Hilfsprogramme des IWF lehnt Erdoğan ab, Arbeitslosigkeit und Armut werden steigen. Dagegen konnte die Opposition im Kampf gegen Corona punkten. Während Gesundheitsminister Fahrettin Koca als das Gesicht der türkischen Corona-Politik nun auf dem ersten Platz der Beliebtheit steht, ist der erfolgsverwöhnte Erdoğan auf den zweiten Platz gerutscht. Dicht hinter ihm folgen schon die CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem İmamoğlu und Mansur Yavaş. Sie hatten eigene Corona-Hilfsprogramme der Stadtverwaltungen aufgelegt, die Erdoğan blockierte. Er warf den Bürgermeistern vor, im Kampf gegen die Pandemie an der Zentralregierung vorbei "einen Staat im Staate" zu bilden. Das dürfte nicht alle im Land überzeugt haben: Die Programme sollten vor allem den sozial Schwachen helfen.

All dies zusammen genommen dürfte die aggressive Linie der Regierungsparteien und der regierungsnahen Medien erklären. Die rechtsnationalistische MHP etwa behauptete, die CHP verschwöre sich mit den "global agierenden Kredithaien" des IWF gegen die Türkei. MHP-Chef Devlet Bahçeli twitterte über diejenigen, "die sich da in den Hotel-Lobbies mit den IWF-Vertretern treffen" und fügte hinzu: "Diese gemieteten Freaks können die türkische Nation nicht hinters Licht führen."

Konkreter traf es Canan Kaftancıoğlu, die CHP-Chefin von Istanbul. Sie hatte in einem Interview vom absehbaren Ende der AKP-Herrschaft und einem Regierungswechsel "durch vorgezogene Wahlen oder auf anderem Wege, sogar einen Systemwechsel" gesprochen. AKP-Vertreter werteten die uneindeutige Formulierung der Oppositionspolitikerin direkt als "Putschaufruf". Der Istanbuler AKP-Chef Bayram Şenocak drohte: "Sie sollte wissen, dass das Wasser des Bosporus um diese Zeit kalt und im Sommer tief ist." Ein anderer AKP-Mann hielt in den sozialen Medien ein gefülltes Pistolenmagazin ins Bild.

"Selbst die AKP hat keine Hoffnung mehr auf einen Wahlsieg", sagte CHP-Vizefraktionschef Özgür Özel. "Weil sie das wissen, werfen sie uns vor, Putschisten zu sein." Und Parteichef Kemal Kılıçdaroğlu sagte: "In der Türkei gibt es nur zwei Mächte, die putschen könnten: Armee, Polizei oder beide gemeinsam. Ist die CHP in der Lage, Polizei oder Armee zu kontrollieren?"

© SZ vom 11.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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