Tibetkonflikt:Ziel ohne Weg

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Der Dalai Lama hat seine Politik des "mittleren Weges" für gescheitert erklärt. Nun debattieren die Tibeter über die Schritte zur Autonomie. Kritiker befürchten gewaltsame Maßnahmen.

Stefan Kornelius

Die tibetische Exilbewegung mit dem Dalai Lama an ihrer Spitze bereitet einen Wechsel ihrer Politik gegenüber China vor. Geplagt von Sorgen um seine Gesundheit und offensichtlich zermürbt vom Widerstand der Chinesen, hat das geistige Oberhaupt der Tibeter die Frage, die sein Volk umtreibt, zur Diskussion freigegeben: Wie sollen die Tibeter für mehr Selbstständigkeit kämpfen? Seit Montag debattieren etwa 600 führende Exil-Tibeter über die richtige Politik ihrer Bewegung - und damit indirekt auch über die Zukunft ihres religiösen Oberhaupts.

Samdhong Rinpoche, Premier der tibetischen Exilregierung. Sein geistiges Oberhaupt und Vordenker ist der Dalai Lama. (Foto: Foto: AP)

Keine andere Unabhängigkeitsbewegung in der Welt genießt so viel Aufmerksamkeit und Popularität wie die tibetische, kein Volk erhält mehr politische Unterstützung und finanzielle Hilfe aus dem Westen. Am Pranger steht, auf den ersten Blick: China, die aufstrebende Weltmacht. Peking aber fühlt sich missverstanden und wirft den Tibetern Separatismus und Doppelzüngigkeit vor. Der Konflikt hat an Sprengkraft gewonnen, eine Eskalation wird nur schwer zu verhindern sein.

Die 500-köpfige Versammlung, die in Dharamsala tagt, wird an diesem Samstag keine bindenden Beschlüsse fassen. Erwartet wird eine politische Empfehlung, die dann vom Parlament der Exil-Tibeter aufgenommen werden kann. Allerdings hat die außerordentliche Tagung eine Welle von Spekulationen über den Einfluss des Dalai Lama ausgelöst.

Der Dalai Lama, der dem Treffen nicht beiwohnt, hatte die Gerüchte Ende Oktober selbst geschürt, als er seine "Politik des Mittelweges" für gescheitert erklärte, mit der er seit 1983 eine friedlichen Lösung für die Autonomie-Forderungen der Tibeter sucht. Nach dem Zusammenbruch der Gespräche mit der chinesischen Regierung wächst nun die Befürchtung, dass radikale tibetische Gruppen ihre Forderung nach mehr Autonomie mit Gewalt durchsetzen könnten.

Ein Aufstand vor Gericht

Die jüngste Zuspitzung in der Tibet-Politik begann lange vor den Olympischen Spielen am 14. März, als chinesische Sicherheitskräfte eine Demonstration von Mönchen in der tibetischen Hauptstadt Lhasa auflösten. Der Zwischenfall führte zu heftigen Unruhen - tibetische Jugendliche brannten in Lhasa Geschäfte nieder und griffen Sicherheitskräfte an. Es gab Tote, Verhaftungen und eine Welle von Gerichtsverfahren. Nach den Protesten und im Licht der anstehenden Spiele willigte die chinesische Regierung in direkte Gespräche mit Vertretern der tibetischen Exilregierung ein. Nach zwei Treffen war für Ende Oktober eine dritte Begegnung anberaumt.

Ungeachtet dessen berief der Dalai Lama im September die außerordentliche Versammlung zur Neubestimmung der Politik der Exiltibeter für Mitte November ein. Weil das geistige Oberhaupt der Tibeter im August mit Gesundheitsbeschwerden ins Krankenhaus gebracht worden war und sich im Oktober einer Gallenstein-Operation unterziehen musste, kursierten Spekulationen über seine allgemeine Belastbarkeit - und mögliche politische Folgen.

Der Dalai Lama hatte in den vergangenen Jahren mehrmals betont, dass die Suche nach einem Nachfolger andere Wege nehmen könne als gewöhnlich. Bisher wurde nach einer sogenannten Wiedergeburt gesucht, meist nach einem Kind, das dann in jahrelanger Erziehungsarbeit auf die Rolle des geistigen Oberhaupts vorbereitet wurde. Die Exiltibeter leben nun in der Sorge, dass sie nach dem Ableben des Dalai Lama jahrelang ohne klare Führung sein und in Fraktionen zerfallen könnten.

Für die größte Überraschung sorgte der Dalai Lama, als er Ende Oktober während einer öffentlichen Veranstaltung in Dharamsala seine bisherige Politik des "friedlichen Mittelwegs" für gescheitert erklärte. "Ich habe ernsthaft den Ansatz des mittleren Weges im Umgang mit China für lange Zeit verfolgt, aber es gab keine positive Reaktion von der chinesischen Seite", sagte er laut Nachrichtenagentur AP. "Wenn es nach mir geht, dann gebe ich auf." Mit der Politik des "mittleren Weges" streben die Exiltibeter eine weitreichende Autonomie in der Provinz Tibet an. Der Dalai Lama hatte von kultureller und religiöser Autonomie gesprochen und eine Selbstverwaltung gefordert.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Welt auf die Abwendung des Dalai Lama von der Politik des "mittleren Weges" reagierte.

Radikalere Kräfte in der Bewegung der Exiltibeter fordern hingegen die Eigenstaatlichkeit Tibets, also die Loslösung von China. Die Forderungen beziehen sich meist auf das gesamte tibetische Siedlungsgebiet, das über die chinesische Provinz Tibet weit hinausreicht. Der Dalai Lama kam mit seiner Bemerkung dem jüngsten und wohl letzten Versuch der Exilregierung zuvor, ernsthafte Verhandlungen mit China über den Autonomiestatus zu beginnen.

Eine Delegation reiste Ende Oktober nach Peking und unterbreitete einen Vorschlag dafür. Dem inzwischen veröffentlichten Papier zufolge wollten die Vertreter über eine sehr weitreichende Selbstverwaltung und eine Begrenzung des Zuzugs von Han-Chinesen nach Tibet verhandeln. In ihren Forderungen bezogen sich die Tibeter immer wieder auf die chinesische Verfassung, die Autonomierechte für Minderheiten vorsieht. Die chinesische Seite wiederum bot offenbar an, über die Rückkehr des Dalai Lama nach Tibet zu verhandeln. Zugeständnisse für eine größere Autonomie werde es hingegen nicht geben, hieß es.

In einer später verbreiteten Erklärung des chinesischen Außenministeriums wurde mit Blick auf die Idee der tibetischen Delegation, die Zahl der Han-Chinesen zu begrenzen, in schroffem Ton von einem Vorschlag zur "ethnischen Säuberung" gesprochen. "Jeder Versuch, Tibet aus dem chinesischen Staatsgebiet zu lösen, ist zum Scheitern verurteilt", sagte der Sprecher des Außenministeriums, Qin Gang. China lebt seit dem Zerfall der Sowjetunion in Sorge, dass sein eigenes Staatsgebiet von ähnlichen Auflösungserscheinungen betroffen sein könnte. In China leben mehr als 40 ethnische Minderheiten.

Die Abwendung des Dalai Lama von seiner Politik des "mittleren Weges" wurde weltweit mit großem Erstaunen zur Kenntnis genommen. Bisher war das geistige Oberhaupt radikalen Festlegungen aus dem Weg gegangen und hatte eine Zuspitzung des Konflikts vermieden. Wohlwollende Tibetexperten spekulierten, der Dalai Lama habe mit der Bemerkung radikalen Kräften im eigenen Lager zuvorkommen wollen. Der New Yorker Tibetologe Robbie Barnett sagte der Washington Post, dass der Dalai Lama in der Vergangenheit in die Kritik geraten sei, weil er eine freie Diskussion nicht zulasse. In diesen Tagen sollten "alle Fraktionen wiedervereinigt werden".

In der Tat haben hochrangige Vertreter der Exiltibeter zur Vernunft gemahnt und deutlich gemacht, dass die Tagung nicht zu festen Beschlüssen führen müsse. Samdhong Rinponche, der Premierminister der Exilregierung, eröffnete die Gespräche am Montag mit den Worten, dass "das Treffen möglicherweise nicht zu einer neuen Politik führen" werde. Jeder neue Weg bedürfe "eines klaren Mandats des Volkes".

Wie dieses Mandat aussehen wird, ist für die tibetische Führung eindeutig: Der Dalai Lama gibt weiter den Kurs vor. Zwar sprachen sich in einer offenbar geheim durchgeführten Umfrage unter 15000 Tibetern in der Provinz 5000 für einen radikalen Kurswechsel aus, 8000 sagten freilich, dass sie der Linie des geistigen Oberhaupts folgen würden, 2000 wollten die bisherige Politik weiter verfolgen. Wie die Umfrage durchgeführt wurde und ob die Zahlen belastbar sind, lässt sich nicht nachweisen.

Die chinesische Regierung hat auf das Treffen in Dharamsala erwartungsgemäß mit großer Empörung reagiert. Die Verlautbarungen aus dem Außenministerium überschlagen sich, außerdem soll ein Emissär in westliche Hauptstädte geschickt werden, um die gescheiterten Verhandlungen aus Pekinger Sicht zu erklären. Ein Sprecher sagte, der Dalai Lama suche "heimlich nach Unabhängigkeit". In Tibet sollen die Sicherheitskontrollen massiv verstärkt worden sein, außerdem komme es vermehrt zu Verhaftungen, sagen exiltibetische Gruppen unter Berufung auf nicht überprüfbare Quellen.

Die jüngste Eskalation wird auch in Europa zu politischen Problemen mit China führen. Demnächst gerät wohl der französische Staatspräsident und amtierende EU-Ratsvorsitzende Nicolas Sarkozy in die Schusslinie. Die chinesische Regierung hat bereits deutlich gemacht, dass sie ein für Dezember geplantes Treffen Sarkozys mit dem Dalai Lama während einer Veranstaltung in Polen nicht hinnehmen werde. Anfang Dezember sollen auch die regulären Gespräche zwischen der EU und der chinesischen Regierung stattfinden.

Sarkozy hilft es nicht, dass die Europäische Union in sich gespalten ist. Nur einen Tag vor der letzten Gesprächsrunde zwischen Exiltibetern und chinesischer Regierung kündigte die britische Regierung ihre seit 94 Jahren bestehende diplomatische Sonderbeziehung zu Tibet auf. Kein anderes Land hält diese Spezialbeziehung noch aufrecht. Die britische Entscheidung wird die chinesische Regierung in ihrer harten Linie in der Tibet-Frage bestärken.

© SZ vom 21.11.2008/cag - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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