Thema Gerechtigkeit im Wahlkampf:Warum die Grünen eine riesige Chance verpasst haben

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Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin auf dem Parteitag in Bamberg (Foto: dpa)

Kurz vor der Wahl sinken die Umfragewerte der Grünen plötzlich ab. Hätten sie das mit der Gerechtigkeit besser bleiben lassen und stattdessen über nichts als die Energiewende reden sollen? Nein. Die Partei hätte sich bei dem Thema profilieren können - und sogar noch von der SPD distanzieren. Sie ist es nur falsch angegangen.

Ein Kommentar von Christoph Hickmann

Sigmar Gabriel, der damals noch nicht SPD-Vorsitzender, sondern Umweltminister war, machte vor vier Jahren eine frustrierende Erfahrung. Er legte, im Gegensatz zum Rest seiner Partei, einen furiosen Wahlkampf hin, indem er den Themenkomplex Atomkraft nach allen Regeln des Handwerks beackerte, kleine Dreckigkeiten eingeschlossen. Gabriel empfahl sich so für sein künftiges Amt, der Partei nützte es nichts, am Ende standen 23 Prozent. Spätestens seitdem gilt in der SPD die Wahlkampfweisheit, dass die Themen Umwelt und Energie zwar wichtig seien, für eine ordentliche Kampagne aber nicht taugten, weil sie, so heißt das im Politjargon, nur bei den Grünen einzahlten. Die seien nun mal das Original.

Machen die Grünen dieser Tage eine ähnliche Erfahrung? Nachdem sie viel Mühe darauf verwandt hatten, für den Wahlkampf ein dickes Umverteilungspaket zu schnüren, sinken ihre Umfragewerte kurz vor der Wahl plötzlich ab. Für die Linkspartei hingegen, der man in Sachen Gerechtigkeit eine gewisse Glaubwürdigkeit nicht absprechen kann, sieht es jetzt gar nicht mal so übel aus. Zahlt die Debatte über die Grünen-Steuerpläne, um im Jargon zu bleiben, nun bei denen ein? Hätten die Grünen das mit der Gerechtigkeit besser bleiben lassen und stattdessen über nichts als die Energiewende reden sollen?

Es laufen jetzt, auch bei den Grünen selbst, die ersten Bescheidwisser mit dieser Parole durch die Gegend, es beginnt eine neue Runde der uralten Auseinandersetzung darüber, wo die Partei stehen sollte, mehr links oder mehr rechts. Es ist aber zwei Wochen vor der Wahl zu früh, um Antworten auf Richtungsfragen zu geben. Erstens kann sich noch einiges tun, zweitens sollte man sich, selbst wenn am Ende ein mäßiges Ergebnis stehen sollte, zuerst ein bisschen mit der Auswertung beschäftigen. Unabhängig davon aber lassen sich schon jetzt zwei Faktoren ausmachen, die den Grünen geschadet haben.

Die wahren sozialen Dramen spielen sich in Europa ab

Erstens sind ihre Umverteilungspläne nicht in diesem Jahr entstanden, sondern, zumindest in den Grundzügen, in der ersten Hälfte der Legislaturperiode. Gerechtigkeit war damals, nachdem die Öffentlichkeit staunend Existenz und Funktionsweise des Finanzkapitalismus zur Kenntnis genommen hatte, ein großes Thema. Es gab entsprechende Umfragen, es gab Reiche, die etwas abgeben wollten, und man konnte damit rechnen, dass sich das Thema halten würde. Die Fokussierung auf Gerechtigkeit und Umverteilung war insofern für eine Partei, deren Funktionäre sich größtenteils zum linken Lager zählen, beinahe zwingend. Vom Klimawandel redete ja kaum noch jemand.

Der Nachteil solch (an sich lobenswerter) langfristiger Programmarbeit ist eine gewisse Inflexibilität, jedenfalls kam es anders. Das Thema spielt im Wahlkampf kaum eine Rolle, es blieb abstrakt, weil zu viele Bürger offenbar nicht das Gefühl haben, dass es ungerecht zugeht (zumindest nicht so sehr, dass sie entsprechend wählen müssten). Darüber kann man mit einigem Recht lamentieren und Beispiele dagegenhalten, nützen würde es nichts. Gerechtigkeit wird in diesem Jahr nicht mehr zum großen Thema, und das liegt nur zum Teil daran, dass es vielen Deutschen recht gut geht. Zum anderen Teil haben es die Grünen selbst zu verantworten.

Das ist der zweite Faktor: Die eigentliche Bühne, auf der sie das Thema Gerechtigkeit hätten präsentieren müssen, heißt Europa. Hier spielen sich als Ergebnis der sogenannten Rettungspolitik die wahren sozialen Dramen dieser Tage ab, und zwar in einer Klarheit, die sie auch für mäßig an Europa interessierte Menschen vermittelbar macht. Was aber taten die Grünen? Trugen (wie auch die SPD) unter Gemecker die Politik der Kanzlerin mit und beraubten sich damit jeder Berechtigung, diese Politik noch anzugreifen.

Chance, von der SPD abzusetzen

Die Grünen haben hier riesige Möglichkeiten verschenkt. Sie hätten sich als Gegner der maßlosen Spardiktate profilieren können und dabei deutlich weniger Angst vor ihrer Wählerschaft haben müssen als die SPD, die stets den Vorwurf der eigenen Klientel fürchten muss, den vermeintlich faulen Südländern noch Geld hinterherwerfen zu wollen. Ganz nebenbei hätten sie sich auch noch ein Stück von den Sozialdemokraten absetzen können.

Hier liegt das eigentliche Versäumnis ihres Wahlkampfs, und hier gilt auch nicht die Ausrede, das Thema habe nun mal leider, leider keine Konjunktur gehabt. Das Thema hatte Konjunktur wie kein anderes. Oder besser: hätte haben können. Wahrscheinlich hätte sich daraus sogar wieder eine breitere Diskussion über Gerechtigkeit auch hierzulande entwickeln lassen. Dazu ist es zu spät.

Stattdessen werden die Grünen nun noch zwei Wochen lang über die Energiewende reden. Da können sie wenigstens nicht allzu viel falsch machen.

© SZ vom 09.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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