SZ-Serie "Der Weg nach Berlin":Die Freiheit des Nachdenkenden

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Bürgernähe steht in der Jobbeschreibung von Politikern. Der Linke Stefan Liebich erprobt sie in einer Berliner Schule. Wähler kann er hier weder gewinnen noch verlieren. Entsprechend offen sind die Antworten, auch bei Fragen zur Parteilinie.

Von Daniel Brössler, Berlin

Politiker "sind doch alle gleich", lautet das Pauschalurteil vieler Deutscher. Sind sie nicht. Die Süddeutsche Zeitung begleitet bis zur Bundestagswahl sieben Kandidaten aus sieben Parteien - Fehler und Rückschläge inklusive. Der Berliner Stefan Liebich will für die Linke erneut in den Bundestag - und ist der Meinung, dass er dafür seine Meinungen nicht ändern muss.

Heute steht Politik auf dem Stundenplan. Die Primo-Levi-Oberschule, ein mächtiger Backsteinbau im Berliner Stadtteil Weißensee, trägt seit einer Schulfusion vor wenigen Jahren den Namen des italienischen Schriftstellers und Auschwitz-Häftlings und folgt, so steht es im "Schulportrait", dem "Ansatz der Vermittlung einer breiten und überzeugenden Allgemein- und Fachbildung". Dafür ist heute Stefan Liebich da.

Er sitzt auf der Bühne in der Aula neben der 17-jährigen Yara Richter aus dem Leistungskurs PoWi (Politik und Wirtschaft). Es soll kein Vortrag werden, sondern ein Interview. Im Leistungskurs sind Fragen vorbereitet worden. Wie ansprechbar ein Abgeordneter sei, beginnt die Befragung etwas zaghaft. Liebich erzählt von seinem Bürgerbüro und versucht es mit einer Prise Selbstironie: "In unserer Jobbeschreibung steht, dass wir auch bürgernah sein müssen, also bin ich auch bürgernah."

Die Schüler in der Aula kommen aus den zehnten und elften Klassen; die wenigsten werden am 22. September 18 sein. Liebich kann hier kaum Wähler gewinnen, aber er läuft auch nicht Gefahr, welche zu verlieren. Er kann frei sprechen. Was er von einem NPD-Verbot halte, wird Liebich gefragt. Ja, da erlebe er, "wie das ist, wenn man eine eigene Meinung hat und die Partei eine andere Meinung hat und beides nicht zusammenpasst", sagt der Abgeordnete. Er sei "unglaublich skeptisch, was Verbote betrifft". In Parteien müsse man sich aber auf Kompromisse verständigen und die Mehrheit in der Linken sei eben für das Verbot. Deshalb werde er im Bundestag auch dafür stimmen.

Liebich ist von der Parteilinie nicht ganz überzeugt

Liebich nennt noch mehr Themen, in denen seine Meinung abweicht. "Sie wissen ja, dass meine Partei sich immer wieder gegen Militäreinsätze ausgesprochen hat", erläutert er, was auch für Mali gelte. Liebich erzählt, dass er am Morgen im Neuen Deutschland ein Interview mit Jean Ziegler gelesen habe. Der unter Linken populäre Globalisierungskritiker aus der Schweiz verteidigt darin den französischen Militäreinsatz in Mali, weil es ein Sieg der Islamisten für die Menschen "großes Elend" bedeutet hätte. "Das bringt mich schon zum Nachdenken", gesteht Liebich.

In der Aula können nun alle wissen, dass Liebich von der letzten Weisheit der Parteilinie nicht überzeugt ist. Aber es ist keine Heldengeschichte, die er den Oberschülern präsentiert. Wenn die Linkspartei gegen den Einsatz sei, gibt er zu, "dann widerspreche ich dem auch nicht".

Innerhalb des Kosmos der Linkspartei gehört Liebich zu den im Forum des Demokratischen Sozialismus (FdS) zusammengeschlossenen Reformern. Damit zählt er, grob gesagt, zu jenen Linken, die ganz gern regieren würden. "Mein Ziel ist nicht, dass wir uns von allen anderen abgrenzen, um dann allein zu stehen", erklärt er. Innerparteilich ist auch diese Position nicht übermäßig populär. In einem großen halbsatirisch gemeinten "Strömungscheck" von zwölf Gruppierungen, der in der Partei kursiert, wird als Stärke des FdS "Verrat und Täuschung" und als Milieu "Anzugträger" genannt. In der Schule trägt Liebich übrigens Jeans.

© SZ vom 13.02.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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