Syrien:Alle gegen alle

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Russland hat sich jetzt mit den Kurden verbündet. Für den Westen wird es schwieriger, zuverlässige Partner im Kampf gegen den IS und Assad zu finden.

Von T. Avenarius,J. Hans, P.-A. Krüger und C. Schlötzer

Die ungelöste Kurdenfrage ist eine blutige Konstante der modernen Nahost-Geschichte. Das "weltweit größte Volk ohne eigene Nation" lebt in vier wichtigen Staaten der Region. Sein Wunsch nach Unabhängigkeit blieb unerfüllt. Marginalisierung, Aufsässigkeit und innere Zerstrittenheit der Kurden sind jedoch seit Jahrzehnten immer wieder Anlass für Krieg und Gewalt - ob in der Türkei, im Irak, in Iran oder in Syrien.

Der 2011 ausgebrochene syrische Bürgerkrieg hat die Kurdenfrage neu angeheizt. Im unübersichtlichen Vielfrontenkrieg zwischen Assad-Regime, Rebellen und Islamischem Staat (IS) spielen die syrischen Kurden eine ganz eigene Rolle: Sie versuchen derzeit, ihre Siedlungsgebiete zusammenhängend zu kontrollieren und sich so in der syrischen Nachkriegszukunft die Chance auf einen eigenen Staat zu sichern. Das erregt den Unwillen der Türkei, die bei jeder Art von kurdischer Selbstherrschaft eine Auflehnung der eigenen sezessionswilligen Kurdenminderheit im Land befürchtet. Und nun die syrischen Kurden bombardiert.

Syrische Kurden

Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten in Syrien, kurz YPG, haben 10 000 bis 15 000 Kämpfer. Sie sind der bewaffnete Arm der Partei der Demokratischen Union (PYD), die sich ideologisch an Abdullah Öcalan orientiert, dem Anführer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die YPG-Kurden haben die Kontrolle in den drei Kantonen Cizîrê, Kobanê und Afrîn übernommen, nachdem das syrische Regime sich Mitte 2012 aus dem Grenzgebiet zur Türkei zurückgezogen hatte. Die YPG haben mit massiver Luftunterstützung der USA Ende 2014 die Terrormiliz Islamischer Staat erfolgreich daran gehindert, die syrisch-türkische Grenzstadt Kobanê einzunehmen. Die IS-Belagerung hatte Hunderttausende in die Flucht getrieben und US-Präsident Barack Obama nach langem Zögern dazu bewegt, militärisch gegen den IS auch in Syrien einzugreifen. Die YPG, bei denen es Frauenbataillone gibt und in deren Reihen auch etliche Ausländer kämpfen, eroberten im Lauf des Jahres 2015 weitere Gebiete in Syrien, von denen manche überwiegend von ethnischen Arabern besiedelt waren. Zeitweise arbeiteten die PYD mit den moderateren unter den Aufständischen zusammen. Derzeit rücken sie jedoch im Rücken von Regierungstruppen in bislang von Rebellen gehaltene Gebiete vor. Ihr Interesse ist es, die drei Kurdenkantone zu einem zusammenhängenden Gebiet zusammenzuführen; Afrîn ist noch abgetrennt.

Syrisches Regime

Vertreter der syrischen Regierung haben wiederholt zu erkennen gegeben, dass sie bereit wären, eine Autonomie der Kurden zu akzeptieren, solange die territoriale Einheit gewährleistet sei. Das könne "auf nationaler Ebene diskutiert werden", sagte Assad im September 2015. Allerdings müsse zunächst der "Kampf gegen die Terroristen" gewonnen werden - darunter versteht das Regime nicht nur den IS, sondern alle Gruppen der bewaffneten Opposition. Die Kurden verlangen, an den Friedensgesprächen in Genf beteiligt zu werden. Das Regime und Russland befürworten das.

Syrische Opposition

Die syrische Opposition wirft den Kurden vor, mindestens ein doppeltes Spiel zu treiben. Die Exilopposition hatte sich 2014 stark gemacht dafür, dass die USA den Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat helfen - wohl in der Hoffnung, später selbst Luftunterstützung zu bekommen. Mittlerweile fühlt sich die Opposition betrogen von den Kurden. Diese nehmen Gebiete ein, die nicht einmal überwiegend von Kurden bewohnt sind und machen sich dabei den Vormarsch der Regierungstruppen und die russischen Luftangriffe zunutze. Das Hohe Verhandlungskomitee, die in Riad vereinigte politische Vertretung der Opposition, lehnt eine Beteiligung der Kurden an Friedensgesprächen vehement ab.

Türkei

Die Angst vor einer Teilung des eigenen Territoriums ist eine türkische Urangst, quasi ein politisch-psychologisches Zerfallsprodukt des Osmanischen Reiches. Die Türkische Republik hat ihre Minderheiten, insbesondere die Kurden, dabei viele Jahrzehnte lang so schlecht behandelt, dass sie deren Sezessionswünsche erst recht schürte. Dies brachte dann auch die marxistisch orientierte Kurdische Arbeiterpartei PKK hervor, die trotz der Inhaftierung ihres Anführers Abdullah Öcalan weiterhin auch mit Waffen für eine kurdische Autonomie im Südosten der Türkei kämpft. Zuletzt ist die Gewalt dort wieder heftig aufgeflammt, kurdische Autonomiewünsche wurden durch die innenpolitische Entwicklung in der Türkei, aber auch durch den Syrien-Konflikt neu befeuert.

Als bei der Eröffnung eines Büros der syrischen Kurdenpartei PYD in Moskau jüngst ein Öcalan-Porträt aufgehängt wurde, zeigte sich die türkische Regierung alarmiert. Die von der PYD und ihrer Miliz , der YPG, eingenommenen Gebiete grenzen ohnehin schon an die Türkei. Nun rücken YPG-Kräfte offenbar auf ein Gebiet vor, über das die Türkei bislang die ohnehin stark bedrängten Anti-Assad-Rebellen versorgt hat. Zudem gebe es in der Gegend zehn Flüchtlingscamps, hieß es am Dienstag in Ankara. Die PYD sei dabei, die nächste große Flüchtlingswelle auszulösen.

Für Ankara ist damit klar: Die syrischen Kurden machen gemeinsame Sache mit Russland und den Assad Truppen. Das türkische Massenblatt Hürriyet zitierte ungenannte türkische Sicherheitsexperten mit der Warnung, Russland wolle das "Modell Grosny" in Syrien anwenden, also wie einst in Tschetschenien erst die Zivilisten vertreiben, um dann seine Gegner umso härter zu bekämpfen.

Russland

Es wirkte wie ein Fingerzeig der Geschichte: Zum Jahrestag des Minsker Abkommens schloss sich der Belagerungsring um Aleppo. Im Februar 2015 hatten die Separatisten in der Ukraine Debalzewe eingekesselt, unterstützt von russischen Spezialeinheiten. Der Kessel lieferte Wladimir Putin den nötigen Druck, um bei den Verhandlungen in der weißrussischen Hauptstadt seine Ziele durchzusetzen.

Ein Jahr später wiederholt sich das Bild in Syrien: Die Truppen von Baschar al-Assad im Verbund mit schiitischen Milizen aus Iran und Libanon belagern die Stadt im Norden Syriens und werden dabei von russischen Bombern unterstützt. Vor dem syrischen Szenario erscheint die Situation in der Ukraine im Rückblick geradezu übersichtlich, mit nur zwei Konfliktparteien. In Syrien aber treibt Putin sein Kräftemessen in einem Umfeld, in dem viele andere Akteure ihre eigenen Interessen verfolgen, die sich von keiner Seite kontrollieren lassen; der Krieg kann jederzeit in einer Kettenreaktion eskalieren.

Seit dem Abschuss eines russischen Bombers an der türkisch-syrischen Grenze ist die Stimmung zwischen Russland und der Türkei eisig. Russische Medien spekulieren derzeit offen über einen möglichen Krieg mit der Türkei. Das Massenblatt Moskowskij Komsomolez druckte eine Grafik mit der Stärke der einzelnen türkischen Truppenteile. "Wenn morgen der Krieg beginnt" titelt die oppositionelle Wochenzeitung Nowoje Wremja. Und der unabhängige Militär-Experte Pawel Felgenhauer, schätzte im Radio Echo Moskaus die Gefahr für einen militärischen Zusammenstoß mit der Türkei auf 50:50. "Russland bereitet sich auf einen großen Krieg vor", hatte er bereits in der vergangenen Woche gewarnt, als Wladimir Putin kurzfristig eine großes Manöver im südlichen Wehrbezirk anordnete. Dazu sind Kriegsschiffe im Schwarzen und im Kaspischen Meer ausgelaufen. In Übungen solle die Gefechtsbereitschaft getestet werden, erklärte das Verteidigungsministerium.

© SZ vom 17.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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