Sven Petry im Interview:"Es gibt etliche Frustrierte, die für Argumente noch empfänglich sind"

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Sven Petry: "Solange es keine einheitliche europäische Antwort auf die Flüchtlingsfrage gibt, kann man nicht als einzelnes Land Menschen ohne Ansicht der Person aufnehmen." (Foto: Gabi Steinert)

Sven Petry, Pfarrer in Sachsen und Ex-Mann von AfD-Chefin Frauke Petry, über die Wut der Menschen im Osten und seinen Einsatz für Dialog statt Konfrontation.

Interview von Oliver Das Gupta, Tautenhain

Sven Petry, Jahrgang 1976, ist evangelischer Pfarrer im Umland von Leipzig. Der promovierte Theologe wuchs in Nordrhein-Westfalen auf, seit zehn Jahren lebt er in Sachsen. In seinem Buch "Fürchtet euch nicht. Warum nur Vertrauen unsere Gesellschaft retten kann." schildert Petry, warum gerade im Osten Deutschlands radikale Gruppen wie Pegida und die AfD regen Zulauf haben. Petry hat vier Kinder aus erster Ehe mit der AfD-Chefin Frauke Petry. Mit seiner Ehefrau Ellen White erwartet Sven Petry ein Baby. Mit seiner Familie wohnt er im Pfarrhaus von Tautenhain (Frohburg).

SZ: Herr Petry, Sie haben eine Gesellschaftsanalyse verfasst. Für wen haben Sie dieses Buch geschrieben?

Sven Petry: Zunächst einmal habe ich es für mich geschrieben, um einige Dinge klar zu kriegen, die in unserer Gesellschaft passieren. Ich habe das Buch auch für Leute verfasst, die in meiner Gegend Sorgen mit sich herumtragen und sich unverstanden fühlen. Wenn wir gesellschaftlich weiterkommen wollen, dann werden wir miteinander mehr ins Gespräch kommen müssen. Das setzt voraus, dass wir erstmal wahrnehmen, wer wir eigentlich sind und wie verschieden wir ticken.

Worauf wollen Sie hinaus?

In den letzten Jahren habe ich mit einigen Ihrer überregionalen Kollegen zu tun gehabt. Die meisten leben im Westen oder in Berlin. Wenn man so ins Gespräch kam, merkte man: Die wissen kaum, wie das Leben hier im Osten tatsächlich aussieht. Es gibt nur gewisse Vorstellungen, wie es sein könnte. Viele Westdeutsche waren schon mal in Dresden, Potsdam oder Weimar. Aber der Osten Deutschlands ist erheblich mehr. Viele Westdeutsche können nicht nachvollziehen, warum die Lebenswirklichkeit für viele Menschen hier eine andere ist. Viele Ostdeutsche haben Jahrzehnte, manche sogar 40 Jahre in einem anderen Land gelebt: in der DDR. Oft wird unterschätzt, wie groß der Bruch 89/90 für viele Menschen hier war.

Sie waren damals noch Schüler im Ruhrgebiet.

Für mich hat sich damals nichts verändert, und für die erwachsenen Westdeutschen auch nicht - abgesehen vom Solidaritätszuschlag und neuen Postleitzahlen. Hier im Osten wurden die Verhältnisse komplett umgekrempelt. Manche Menschen hat das massiv verunsichert. Mit der Verunsicherung entstand Angst vor weiteren Veränderungen. Strukturwandel gibt es auch im Westen, aber das Tempo war hier völlig anders. Im Osten passierte alles wie unter einem Brennglas. 16 Millionen Menschen verbinden einschneidende Veränderungsprozesse mit der kurzen Phase der Wende und Wiedervereinigung.

Wie haben sich die Verhältnisse in Tautenhain umgewälzt?

In Dörfern wie meinem ist von der Sozialstruktur von vor 1990 fast nichts übrig geblieben. Zentral war der Wegfall der LPGs, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. Unter ihrem Dach wurde das Leben der Dorfgemeinschaft organisiert. Das war nach dem Ende der DDR plötzlich weg - ebenso wie die dazugehörigen Arbeitsplätze. Junge Leute, die kurz vorher eine Ausbildung gemacht hatten und deren beruflicher Weg in der Region vorgezeichnet war, mussten nach Stuttgart ziehen.

Auch in Stuttgart kann man glücklich werden, oder?

Sicherlich, nur aus der hiesigen Perspektive sind die jungen Leute trotzdem weg. Und diese Verlusterfahrung wird zusammengebracht mit der großen Veränderung der Einheit und einer Verklärung der DDR. Nicht wenige Menschen im Osten sind deshalb hochempfindlich, wenn sich schon wieder etwas verändern soll.

Womit wir beim Herbst 2015 wären.

In der Flüchtlingskrise wurde der Nerv besonders getroffen. Damals hieß es ja nicht nur, dass sich nun alles ändern würde. Teile der hohen Politik - damit meine ich nicht die Kanzlerin, sondern vor allem Vertreter aus der rot-grünen Ecke - haben im Überschwang auf die demographische Entwicklung verwiesen. Nach dem Motto: Eigentlich ist das doch toll, gerade ihr auf dem Land braucht doch Leute, also freut euch doch über die Veränderung. Das war 2015 einige Wochen das Narrativ, das aus Berlin hier in der Provinz angekommen ist. Und das war der Punkt, an dem viele Leute ausgestiegen sind.

Gab es schroffe Ablehnung in Ihrer Gemeinde?

Das weniger, oft hieß es sinngemäß: "Wir müssen diesen Leuten schon helfen. Aber warum soll ich mich darüber noch freuen, dass die hierherkommen und wir sie integrieren müssen?"

Finden Sie es richtig, dass die Bundesregierung mit der Kanzlerin an der Spitze die vielen Menschen nach Deutschland gelassen hat?

Von allen schlechten Alternativen war diese noch die beste. Was wäre wohl passiert, wenn im Dezember noch Hunderttausende Menschen auf dem Balkan herumgeirrt wären? Das will man sich nicht ausmalen. Es war besser, dass diese Menschen den Winter in deutschen Turnhallen verbracht haben als in Griechenland unter freiem Himmel oder in einem windigen Zelt. Wer dauerhaft bleiben kann, war und ist eine andere Frage.

Inzwischen wurde aus der Willkommenskultur eine Abschottungspolitik.

Solange es keine einheitliche europäische Antwort auf die Flüchtlingsfrage gibt, kann man nicht als einzelnes Land Menschen ohne Ansicht der Person aufnehmen. Dem einen oder anderen in der Politik mag es ganz recht sein, dass er sich hinter den unwilligen europäischen Nachbarn verstecken kann. Man kann lange über Auffanglager in Nordafrika und in der Türkei schwadronieren und zugleich verurteilen, dass man sich mit Politikern wie Erdoğan arrangiert. Es ist die Quadratur des Kreises, die da einige lautstark fordern.

So argumentieren Rechtspopulisten, deren Masche hier im Osten besonders verfängt. Wie kann man den Menschen Politik besser erklären?

"Politik besser erklären" - das ist so eine Phrase, da machen viele Leute hier zu. Denn dieses "Erklären" klingt bei denjenigen wie eine Drohung, eine andere Sicht eingetrichtert zu bekommen. Deshalb wollen einige sich gar nichts mehr erklären lassen.

In Ihrem Buch plädieren Sie energisch für Dialog. Wie kann der entstehen, wenn so viel Wut und Frust im Spiel sind?

Der erste Schritt wäre, dass man zunächst die Welt des Gegenübers versteht und dieses Verständnis authentisch ist. Die Lösung ist nicht, Leuten mit populistisch aufgeladenen Ängsten zu erklären, dass sie keine Ängste haben brauchen. Man muss hören, was diese Menschen tatsächlich umtreibt, dann versteht man sie auch. Wenn man in eine Konfliktsituation mit der Haltung reingeht, dass der andere von seiner Meinung abschwören muss, dann kommt es zu keinem Dialog. Dann bleibt die Front so wie sie ist. Als Christ möchte ich verbinden und auch die Position des anderen wahrnehmen und aushalten.

Wo sehen Sie die Grenze?

Genau genommen gibt es zwei Grenzen: Die strafrechtliche Grenze und die Anstandsgrenze. Das, was zwischen diesen Grenzen liegt, ist mitunter nicht schön, darf aber gesagt werden. Sobald etwas jenseits der Anstandsgrenze liegt, wird das Urteil aber schnell pauschal. Meinem Eindruck nach werden die Anhänger von Populisten zu oft über einen Kamm geschoren - zur Freude der Populisten. Es gibt etliche frustrierte Menschen, die für Argumente noch empfänglich sind. Aber dafür muss man ihnen erstmal zuhören, um das ganze Bild wahrzunehmen.

Was ist mit denjenigen, die einfach nicht mehr reden wollen?

Klar, es gibt solche, an die man nicht mehr rankommt. Es gibt auch Ereignisse wie in Freital und anderen sächsischen Orten, an denen man nichts gut reden kann. Gleichzeitig ist ein schiefes Bild von Sachsen entstanden. Medial kamen während der Flüchtlingskrise die positiven Beispiele aus Sachsen kaum vor. Journalisten berichteten lieber über die Hilfsbereitschaft in Schleswig-Holstein und am Chiemsee.

Also böse Ossis und gute Wessis?

Zumindest blieb da bei etlichen Menschen der Eindruck hängen, dass die Medien eben nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden. Das bringt denjenigen Zulauf, die "Lügenpresse" rufen. Und es frustriert die Leute, die sich hier für Flüchtlinge eingesetzt haben.

Was wollen die aufgebrachten Leute, mit denen Sie sprechen?

Es ist vielschichtig, Emotionen spielen eine große Rolle. Viele fühlen sich an die Endphase der DDR erinnert und glauben, auch die Bundesrepublik stehe kurz vor dem Zusammenbruch. Dann heißt es sinngemäß: Ich habe das eine System überstanden, ich überstehe auch das zweite System. Konkrete Vorstellungen haben wenige, auch die AfD bleibt ja bewusst in vielen Dingen diffus und widersprüchlich.

Beim Thema NS-Zeit wird die AfD konkret: Thüringens Landesparteichef Björn Höcke beklagt eine angeblich "dämliche Bewältigungspolitik" und verlangt eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad".

Ich kann Herrn Höcke nicht ins Gehirn gucken, seine Aussagen wirken wirr: Ist es Höcke lieber, wir würden die Vergangenheit nicht bewältigen? Heißt Höckes "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad", dass wir Hitler, seine Diktatur und den Zweiten Weltkrieg glorifizieren sollen? Die Nazi-Zeit und der Holocaust sind und bleiben das finsterste Kapitel unserer Geschichte, mit dem wir leben müssen. Daran wird Herr Höcke nichts ändern können.

Herr Petry, kritische Journalisten werden von der AfD und ihrem Anhang heftig angegangen. Wie sollten Medien über die Partei berichten?

Sachlich durchdeklinieren, was deren Vorstellungen bedeuten - auch in weiterer Konsequenz. Das alles kann man nüchtern beschreiben, ganz ohne Eifer und knallige Schlagzeile. Dann erreicht man mitunter auch diejenigen, die für die freiheitliche Demokratie noch nicht verloren sind.

In den letzten Jahren wurden Sie zu einer weitbekannten Person. Was macht das mit einem, wenn man unfreiwillig eine gewisse Prominenz erreicht?

Im Grunde genommen ist es nur eine andere Bühne. Als Pfarrer war ich auch schon eine öffentliche Person in der Region, bevor meine damalige Frau bundesweit bekannt wurde.

Sie sind demonstrativ in die CDU eingetreten. Wollen Sie noch aktiver werden?

Nein, ich habe einen Beruf und den übe ich gerne aus. Außerdem wäre eine Konfrontation mit meiner Ex-Frau auf offener Bühne dann kaum zu vermeiden. Wir haben vier Kinder, um die wir uns gemeinsam kümmern. Das ist meine rote Linie.

Sie drängen nicht in die Politik, aber es reizt Sie doch, oder?

Man sollte niemals nie sagen. Wer weiß schon, wie die Welt in fünf oder zehn Jahren aussieht.

Zu Beginn habe ich Sie gefragt, für wen Sie Ihr Buch geschrieben haben. Gewidmet haben Sie es Ihren ersten vier Kindern.

Für meine Kinder habe ich es auch getan. Denn ich hoffe, dass sie als nicht von Angst bestimmte Menschen durch die Welt gehen.

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