Glosse:Das Streiflicht

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Wehe, o Gast der Gastro, du hältst deinen Slot im Restaurant nicht ein! Aber selbst wenn du es tust, warten neuerdings Überraschungen.

(SZ) Wer surreale Erfahrungen sucht, begibt sich am besten als Gast in die Gastro. Dort weicht die einstige Gemütlichkeit einer rigiden Slotplanung, man bekommt bei der Reservierung neuerdings enge Zeitfenster zugewiesen, zu denen man sich einzufinden hat, 19.30 Uhr bis 19.55 Uhr zum Beispiel. Hat man die Speisekarte entgegengenommen, steht die Bedienung erneut am Tisch, aber kein Stress, sie komme später noch mal, sagt sie und meint damit: jetzt. Denn da steht sie schon wieder, mit Block, Stift und erwartungsvollem Gesichtsausdruck, wo man die Karte doch gerade erst bis zur ersten Vorspeise studiert hat. Oder war sie je weg? So geht es eine Weile, ehe man um 19.31 Uhr die Bestellung aufgibt. Um 19.52 Uhr wird das Essen gereicht, man speist in aller Ruhe bis 19.54 Uhr. So weit, so normal. Aber dann.

Dezent hebt der Gast die Hand, maximal bis auf Kinnhöhe, unaufdringlicher Blickkontakt, kurzes Nicken der Bedienung, sie eilt los. Und am Tisch vorbei. Es folgen weitere Versuche der Kontaktaufnahme, die Hand von Mal zu Mal höher, bis das Herbeiwinken zu einer fast vulgären Geste ausartet. Dabei will man doch nur schleunigst zahlen und abzischen, brav den Tisch freigeben für den nächsten Slot. Bis heute ist nicht restlos geklärt, welche Fehlverschaltung des Universums dafür verantwortlich ist, dass speziell in der Gastronomie der Zustand freundlicher Dauerbelagerung unversehens umkippen kann in Komplettignoranz, mitunter ohne jeden Personalwechsel. Plötzlich ist man weggebeamt in den toten Winkel der Servicewüste. Man sitzt da wie im Auge eines Orkans, inmitten reger Geschäftigkeit passiert einfach nichts. Als "rasenden Stillstand" hat der französische Geschwindigkeitsphilosoph Paul Virilio die Zeiterfahrung der späten Moderne bezeichnet: Die Dinge sind fortwährend im Umbruch, fühlen sich aber nicht mehr wie Fortschritt an. Und bestimmt saß der Herr, als er zu dieser Gegenwartsdiagnose inspiriert wurde, in einem Bistro, wie Pariser Intellektuelle das halt so machen, und wartete vergeblich auf seine Bedienung.

Jedenfalls deutet alles darauf hin, dass derlei Verhaltensweisen gezielt eingeübt werden, insbesondere in Paris. Dort findet an diesem Sonntag die traditionelle "Course des garçons de café" statt, das Wettrennen des Servicepersonals durchs Stadtzentrum, bei dem man ursprünglich angeblich nicht einmal rennen durfte, aber inzwischen schon, weil ja alles immer schnelllebiger wird. Vermutlich werden die garçons unterwegs nicht halten und keine Bestellungen entgegennehmen. Ihr Ansinnen ist einzig, die Kaffeetasse auf dem Tablett ins Ziel zu bekommen, ohne dass etwas wackelt, auskippt oder zu Bruch geht, und mindestens aus Sicht der Kaffeetasse ist das ja wohl nichts anders als rasender Stillstand.

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