Offensive im Donbass:Warum Sjewjerodonezk für Russland so bedeutend ist

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Die Mutter eines gefallenen ukrainischen Soldaten weint am Grab ihres Sohnes. Er kämpfte in Sjewjerodonezk. (Foto: Daniel Ceng Shou-Yi/dpa)

Offenbar haben Putins Truppen die Stadt in der Region Luhansk weitgehend eingenommen. Anderswo im Donbass machen sie jedoch kaum Fortschritte. Die Ukraine setzt unterdessen zu einer Gegenoffensive im Süden an.

Von Florian Hassel, Belgrad

Russische Truppen haben die Stadt Sjewjerodonezk, bisher Sitz der kiewtreuen Verwaltung der ostukrainischen Grenzregion Luhansk, weitgehend erobert. Serhij Hajdaj, als Militärgouverneur Vertreter von Präsident Wolodimir Selenskij in der Region, sagte am Mittwochmorgen im ukrainischen Fernsehen, russische Streitkräfte kontrollierten bereits "70 Prozent" der früher 100 000 Einwohner zählenden Stadt.

Dies deckt sich mit Angaben des ukrainischen Generalstabes. Sjewjerodonezk war ein Hauptstützpunkt der ukrainischen Armee, die Hajdaj zufolge nun den Rückzug aus der Stadt begonnen hat, bevor Russland die Stadt im Westen und Südwesten einschließen und den Verteidigern den Abzug zu weiter westlichen, noch von Kiew kontrollierten Gebieten abschneiden kann. Ein entsprechendes Vorgehen für den Fall russischen Vorrückens hatte Hajdaj gegenüber ukrainischen Journalisten bereits am 26. April angekündigt.

Die USA haben der Ukraine in den vergangenen Wochen bereits knapp 100 Panzerhaubitzen mit großer Reichweite und andere Waffen geliefert - von derlei Waffen seien indes "zu wenige angekommen", um die Dynamik etwa in Sjewjerodonezk zugunsten der Verteidiger zu ändern, so Hajdaj im Fernsehinterview.

Die Verteidiger ziehen sich zurück, doch 15 000 Einwohner sind geblieben

In Sjewjerodonezk, das russische Einheiten wie zuvor die Hafenstadt Mariupol seit Wochen mit Fliegerbomben und Artillerie sturmreif geschossen haben und das Hajdaj zufolge zu 90 Prozent zerstört sei, halten sich dem Militärgouverneur zufolge immer noch rund 15 000 Einwohner auf, weitere rund 25 000 in umliegenden Dörfern und kleineren Städten der Region. "99 Prozent" dieser Menschen wollten ihre Heimat nicht verlassen, weil sie zu alt seien, kein Geld hätten, hofften, dass sie der Krieg verschone - oder sie zu Hause sterben wollten.

Russische Medien veröffentlichten Aufnahmen angeblicher Einwohner, die russische Soldaten mit Jubel begrüßten. Hajdaj nannte die Aufnahmen gestellt. "Tausende, die in der Stadt geblieben sind, haben Angst vor Rache oder einem grundlosen Massaker so wie in Butscha", so der Militärgouverneur. Bereits am 29. Mai hatte Hajdaj mitgeteilt, allein in Sjewjerodonezk seien schon vor dem Einmarsch 1500 neue Gräber ausgehoben worden - darunter offenbar viele Opfer russischer Bomben oder Artillerieangriffe.

Russische Truppen versuchen Hajdaj und dem Generalstab zufolge nicht nur, Sjewjerodonezk einzuschließen, sondern weiter im Westen auch zentrale Städte wie Bachmut und vor allem Slowjansk und Kramatorsk zu erobern, ohne die eine Kontrolle der an Luhansk grenzenden Region Donezk und somit der gesamten Ostukraine nicht möglich ist.

Sowohl die russischen Angreifer als auch die ukrainischen Verteidiger erleiden enorme Verluste: "Die Lage ist sehr schwierig, wir verlieren jeden Tag 60 bis 100 Soldaten, die im Kampf getötet werden und ungefähr 500, die im Kampf verwundet werden", sagte Präsident Selenskij dem US-Fernsehsender Newsmax.

An anderen Stellen hat die ukrainische Armee ihrerseits erfolgreiche Gegenoffensiven durchgeführt - vor allem, um russische Einheiten von Stellungen nahe Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, zurückzudrängen. Die Ukraine hat zudem vor einigen Tagen mit einer Gegenoffensive in der weitgehend von Russland eroberten Region Cherson begonnen, die nicht nur wegen der gleichnamigen 260 000-Einwohner-Stadt von enormer Bedeutung ist.

In der Region Cherson haben russische Truppen die einzige Stellung westlich des die Ukraine trennenden Dnjepr-Flusses. "Damit ist Russland in einer sehr starken Position, von der aus es eine künftige Invasion (der restlichen Ukraine) beginnen kann", urteilt das Washingtoner Institut für Kriegsstudien (ISW). "Falls jedoch die Ukraine Cherson zurückgewinnt, wird die Ukraine in einer viel stärkeren Position sein, um sich gegen künftige russische Angriffe zu verteidigen."

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