Singapur:Obenauf im Wolkenkratzerstaat

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Zuversichtlich: Lee Hsien Loong, Sohn des Staatsgründers, ist seit 2004 Singapurs Regierungschef und erst der dritte seit 1959. (Foto: Ore Huiying/Getty)

Ein Sieg der seit Jahrzehnten dominierenden PAP-Partei gilt als sicher. Doch trotz Wohlstands nimmt die Unzufriedenheit zu. Die Jüngeren wollen mehr Vielfalt und Offenheit - und geben der Opposition Auftrieb.

Von Arne Perras, Singapur

Kandidatin Wendy Low hat es eilig, am Abend wird sie noch dreieinhalb Wohnblocks abklappern, von Tür zu Tür, 75 Stockwerke mit etwa 500 Wohnungen. Der Wahlkampf in Singapur dauert nur neun Tage, da gilt es, keine Zeit zu verlieren. Im Dreierteam ist die Juristin für die Progress Singapore Party (PSP) unterwegs, ein Helfer betätigt die Klingel, ein zweiter trägt Flugblätter, und Oppositionskandidatin Low, die Abgeordnete für den Wahlkreis Tanjong Pagar werden möchte, stellt sich jedem in rasender Geschwindigkeit vor. Manchmal dauert die Begegnung kaum eine Minute.

"Hallo, ich bin Wendy Low, für die PSP, wollte nur mal kurz vorbeischauen", sagt sie, als ein hochgewachsener Mann im 18. Stock öffnet. Low trägt Schutzmaske und hält den gebotenen Corona-Abstand, gleichwohl wirkt der Bewohner zunächst etwas erschrocken. Dann aber fragt er, was Low denn verbessern wolle. "Die Jobsituation", sagt die Kandidatin, und auch die "Lage für untere Einkommen", da gebe es viel zu tun. "Verstehe", sagt der Mann, aber da muss Wendy Low auch schon weiter. "Bitte geben Sie uns Ihre Stimme", ruft sie noch, Singapur brauche mehr Vielfalt. Und schon flitzt sie weiter.

Der jüngere Bruder des Premiers hat sich der Opposition angeschlossen. Das gilt als Zeichen

Das ist Wahlkampf im Akkord. Versammlungen lässt der Staat in Zeiten von Covid-19 nicht zu, aber eine Wahl hält Singapur dennoch ab, obgleich dafür noch bis Frühjahr 2021 Zeit gewesen wäre. Die Opposition findet das Timing nicht gut, konnte es aber nicht verhindern. Durch die Blitz-Hausbesuche bekommen die Leute zumindest eine Chance, Kandidaten leibhaftig für einen Moment vor sich zu sehen. Ansonsten sind alle Auftritte in Form von Videos und Livestreams ins Internet verlagert, vor der Wahl am Freitag fluten Posts der Parteien die sozialen Medien. Die PSP ist eine neue Kraft, 2019 gegründet, eine von elf Oppositionsgruppen, die gegen die People's Action Party (PAP) antreten, den politischen Platzhirsch. Die PAP regiert Singapur schon seit 1959. Keine politische Kraft in Südostasien hat sich so lange behauptet. Das liegt nicht nur, aber auch an Staatsgründer Lee Kuan Yew, der den einstigen britischen Freihafen mit Weitsicht und strenger Hand in eine wohlhabende Metropole verwandelte.

Singapur hatte in all der Zeit nur drei Premierminister. Seit 2004 regiert der älteste Sohn des Staatsgründers. Lee Hsien Loong geht noch mal ins Rennen, obgleich er schon einen designierten Nachfolger in der PAP hat: Heng Swee Keat soll ihn beerben, vorher aber strebt die PAP erneut ein breites Mandat an, um das Land durch die Corona-Krise zu steuern. Das Virus hatten sie bisher gut im Griff, allerdings war ihnen die Lage bald in den engen Behausungen der Gastarbeiter entglitten, was Kritik schürte. Dennoch rechnet in Singapur nicht einmal die Opposition damit, dass sie nun die Macht erobern könnte - die PAP-Maschinerie dominiert das Geschehen. Gleichwohl ist die Wahl weit mehr als absehbare Routine. Vor allem gilt sie als Gradmesser für die Zufriedenheit. Sie wird einen Eindruck davon vermitteln, wie es um die Akzeptanz einer Regierung steht, die seit mehr als sechs Jahrzehnten unangefochten den Kurs bestimmt, die Freiheiten beschränkt und Verhältnisse geschaffen hat, in denen es Mut erfordert, sich für die Opposition starkzumachen. Wer zu forsch auftritt, riskiert, mit Verleumdungsklagen in den Bankrott getrieben zu werden. In drastischen Fällen droht gar Haft.

Im Parlament hatte es die Opposition 2015 gerade mal geschafft, 6 von 89 Sitzen zu erringen, das Mehrheitswahlrecht begünstigt die Starken. Außerdem werden Wahlkreise oft neu zugeschnitten, wenn die Regierung das für notwendig hält.

Dennoch wollen die Herausforderer zumindest eine Zweidrittelmehrheit für die PAP verhindern, aber schon das dürfte schwer genug werden. Ein Korrektiv im Parlament musste die PAP nie fürchten. In der Covid-Krise verteilt die Regierung Milliarden, um jene aufzufangen, die ihr Einkommen verlieren. Die PAP kann darauf zählen, dass sich so viel Fürsorglichkeit politisch auszahlt. Andererseits hat sich auch unterschwelliger Frust aufgestaut. Kaum ein Singapurer möchte das unter seinem Namen zur Sprache bringen, aber in privaten Gesprächen artikulieren sie manchmal doch ihre Sorgen. Latente Unzufriedenheit ist quer durch alle Generationen spürbar, aber sie ist schwer zu vermessen, Debatten darüber sind nur in engen Grenzen möglich.

Der Zustrom ausländischer Arbeitnehmer, vor allem aus Indien und China, ist ein Reizthema, verbreitet sind Ängste, dass billigere Kräfte Singapurern den Job wegnehmen, etwa im Banken- oder IT-Bereich. Es gibt Streit um Wertverluste im sozialen Wohnungsbau und Warnungen, dass die Kluft zwischen Arm und Reich wächst. Unter jungen Leuten ist zu hören, dass sie sich mehr Vielfalt und Debatten wünschen. Mehr Offenheit wagen Bürger in geschlossenen Chatgruppen, auf Whatsapp oder Telegram, die Regierung hat zwar die traditionellen Medien an die kurze Leine gelegt, doch zu steuern, was sich im Internet abspielt, ist schwieriger. Ein striktes Gesetz, kurz Pofma, soll nach offizieller Lesart Fake News ahnden. Doch die Opposition fürchtet, dass sich damit auch andere Meinungen unterdrücken lassen.

"Wir hoffen auf die Unentschlossenen", sagt Haaris Chua, der sich für die PSP engagiert. Bei Rundgängen von Tür zu Tür ist er auf Menschen gestoßen, die kurz vor der Wahl noch schwankten. Sie schätzen, was die PAP erreicht hat, andererseits ersehnen sie frischen Wind. Ob das reicht für einen Schub für die Opposition? Ihr dürfte in die Hände spielen, dass Lee Kuan Yews Nachkommen ein Bild der Zerstrittenheit liefern. Der jüngere Bruder des Premiers trat sogar der oppositionellen PSP bei; zwar kandidiert er nicht, aber das Zeichen ist unübersehbar. Während die PAP Einigkeit beschwört, zeigt die Fassade Risse.

Das Kalkül im Regierungslager ruht auf der Zuversicht, dass Wähler in Krisenzeiten nicht zu Experimenten neigten. So betonte Premier Lee: Länder, in denen oft Regierungen gewechselt hätten, seien nicht besser dran. Er warnte: "Lasst Euch nicht verschaukeln", alle sollten sich fragen, ob die anderen ihre Versprechen denn auch einlösen könnten.

© SZ vom 09.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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