Krieg in der Ukraine:"Jeder Verlust ist ein großer Verlust für uns"

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In Kiew ehren Soldaten das Andenken ihrer gefallenen Kameraden (Archivbild). (Foto: Maksym Polishchuk/IMAGO/ZUMA Wire)

Erstmals nennt der ukrainische Präsident die Zahl von 31 000 gefallenen ukrainischen Soldaten. Frühere Schätzungen lagen teils deutlich höher. Wie verlässlich ist diese Angabe?

Von Florian Hassel, Belgrad

Es ist eines der bestgehüteten Geheimnisse der Ukraine: wie viele Soldaten seit dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 gefallen sind und wie viele verwundet wurden. Jetzt nannte Präsident Wolodimir Selenskij zum ersten Mal seit Langem eine Zahl: "31 000 ukrainische Militärs sind in diesem Krieg gestorben. Nicht 300 000, auch nicht 150 000, wie Putin lügt ... Doch jeder Verlust ist ein großer Verlust für uns", sagte Selenskij am Sonntag auf einer Pressekonferenz in Kiew. Freilich deuten andere Schätzungen und Indizien darauf hin, dass diese Zahl vom wahren Ausmaß des Sterbens ukrainischer Soldaten weit entfernt sein könnte.

Die US-Geheimdienste schätzten die russischen Verluste im Dezember 2023 auf 315 000 Tote und Verwundete. Exilmedien wie Meduza oder Mediazona werten Erbfallverzeichnisse und andere Quellen aus - und stellten jetzt fest, bis Ende 2023 seien mindestens 75 000 russische Soldaten ums Leben gekommen, bis Ende Februar ist diese Zahl wohl auf 83 000 gestiegen.

Frühere Schätzungen lagen oft wesentlich höher

Für die Ukraine fehlen regelmäßige Auswertungen. Bisher veröffentlichten nur Mitte November 2023 der Militärhistoriker Jaroslaw Tyntschenko und Herman Schapowalenko Schätzungen. Schapowalenko führt seit 2014 eine Datenbank über gefallene ukrainische Soldaten, die Daten seit Beginn der Invasion sind freilich vertraulich. Beide werteten zudem Erlasse Selenskijs über posthume Ehrungen gefallener Soldaten aus. Ihr Fazit: 24 500 tote Soldaten seien bestätigt, was wohl 70 Prozent der tatsächlichen Zahl gefallener Soldaten entspreche. Die hätte demnach Anfang November 2023 bei rund 30 000 gelegen.

Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass diese Zahlen zutreffen. In einem der Washington Post zugespielten US-Militärdokument vom 21. Februar 2023 heißt es, es seien zwischen 15 500 und 17 000 ukrainische Soldaten gefallen und bis zu 110 500 weitere verwundet worden. Freilich schränkte der Autor ein, angesichts spärlicher Daten lägen die Schätzungen womöglich daneben.

Mitte August 2023, nach den ersten Monaten einer für die Ukrainer enorm verlustreichen Offensive, befragte die New York Times US-Offizielle und einen hochrangigen ukrainischen Ex-Offiziellen. Ihre Schätzungen, die auf der Auswertung von sozialen Medien, Satellitenaufnahmen und abgefangener Kommunikation beruhten: Knapp 70 000 ukrainische Soldaten seien bis zu diesem Zeitpunkt ums Leben gekommen.

Indizien deuten auf Hunderttausende Verwundete hin

Präsident Selenskij wollte am Sonntag nicht die Zahl verletzter Soldaten nennen. Doch Indizien wie Zahlen zu Amputationen deuten auf Hunderttausende Verwundete hin. Anfang September 2023 schätzte Olha Rudnewa, Direktorin der auf Prothesen für amputierte Soldaten spezialisierten Bürgergruppe Superhumans, gegenüber AP die Zahl von 20 000 Amputationen seit Beginn der Invasion. Rudnewas Kollege Andrij Stawnizer schrieb Ende September 2023 indes von "mehr als 60 000 Amputationen". Und der ukrainische Gesundheitsminister Wiktor Ljaschko soll in Berlin am 2. Februar über 100 000 Amputationen seit 2022 berichtet haben, so die NZZ unter Berufung auf den deutschen Prothesenhersteller Ottobock.

Zahlen von Zehntausenden Amputationen lassen Alarmglocken schrillen, wenn man sie ins Verhältnis zu typischen Verlustzahlen im Krieg setzt. 2007 erforschte die US-Militärärztin Lynn Stansbury mit vier Kollegen die Amputationen von US-Soldaten im Irak, in Afghanistan und Vietnam. Ihr Fazit: Bis zu 70 Prozent aller schweren Verletzungen an der Front träfen Hände, Arme oder Beine. Der Anteil an Amputationen habe von Vietnam bis Afghanistan gut fünf Prozent aller schweren Verletzungen an der Front betragen und sei in einem halben Jahrhundert praktisch unverändert geblieben, so die US-Militärärzte.

Der Cheftraumatologe der ukrainischen Armee, Jurij Jarmoljuk, nannte im Juli 2023 ähnliche Zahlen zu Verletzungen an der Front: "65 bis 70 Prozent der Wunden im Krieg entfallen auf die Glieder." Würde in der Ukraine das Verhältnis von Amputationen zu schweren Verletzungen den Erfahrungen der US-Militärs entsprechen, würden schon 20 000 Amputationen etwa 400 000 verwundete Soldaten bedeuten.

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Gewiss dürfte das Niveau der medizinischen Notversorgung in den US-Kriegen höher gewesen sein als in der oft durch die lange Front und fehlenden Transport beeinträchtigten ukrainischen Frontmedizin - es könnten in der Ukraine deutlich mehr Amputationen nötig sein, wenn Verwundete nur mit Verzögerung versorgt werden können.

Selbst eine Annahme von "nur" 200 000 verletzten Soldaten aber wäre eine erschreckende Zahl, wenn zutrifft, was die Forscher Tyntschenko und Schapowalenko im November feststellten: "Das Verhältnis von Gestorbenen zu Verwundeten beträgt in modernen Kriegen 1:3 - und die Autoren haben eine Menge dokumentarischer Belege dafür, dass dieses Verhältnis in diesem Stadium des russisch-ukrainischen Krieges so geblieben ist." Schon dies würde knapp 70 000 tote ukrainische Soldaten bedeuten - mehr als das Doppelte der vom Präsidenten zugegebenen Zahl.

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