Schweiz und das Minarett-Verbot:Die große Verbockung

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Die Schweiz verhält sich wie ein Musterschüler und bekommt trotzdem schlechte Noten. Nun wollten die Schweizer "endlich einmal trotzig sein" - und das Land könnte ein Pionier für die Welt werden.

Thomas Steinfeld

In der jüngsten Ausgabe der Schweizer Monatshefte (November 2009) findet sich ein Artikel des Wirtschaftswissenschaftlers Radu Golban, in dem er aufzählt, wie willfährig die Schweiz in den vergangenen Jahren ihren Nachbarn gegenüber gewesen sei - und wie schlecht sie es ihr gedankt hätten. Kaum dass die Schweiz dem Schengener Abkommen beigetreten sei, habe Peer Steinbrück sie zum Schurken einer globalisierten Steuerpolitik erklärt. Kaum habe sie Roman Polanski verhaftet, einem amerikanischen Auslieferungsbegehren folgend, seien die Intellektuellen und Künstler der ganzen Welt über sie hergefallen.

Mit diesem Plakat wurde in der Schweiz für das Minarett-Verbot geworben. (Foto: Foto: dpa)

Die Schweiz habe, nach Verhandlungen mit der Europäischen Union, ihren Arbeitsmarkt für Ausländer geöffnet - und die Schweizer hätten dafür Lohnsenkungen hinnehmen müssen, weil die Zugewanderten billiger waren. Und habe die Schweiz nicht, mehr oder minder, ihr Bankgeheimnis opfern müssen, obwohl sie alle geltenden Doppelbesteuerungsabkommen mit den Vereinigten Staaten und den Ländern der Europäischen Union nach Geist und Buchstabe geachtet habe? Die Schweiz, so Radu Golban, verhalte sich wie ein Musterschüler und bekomme trotzdem schlechte Noten. Es sei aber vielleicht an der Zeit, "endlich einmal eine schlechte Zensur zu wagen".

Genau dieses ist am vergangenen Sonntag geschehen, als sich eine deutliche Mehrheit der wählenden Schweizer für ein Verbot von Minaretten aussprach. Die Empörung, die Sorge, die diese Entscheidung im Ausland auslöst, die Scham, von der seitdem die selbstbewusst aufgeklärten Schweizer befallen sind - auch darauf war es den Initiatoren dieser Volksabstimmung angekommen. Damit stießen sie nicht nur, was keine Überraschung gewesen wäre, auf das Verständnis, sondern auch, was dann doch eine Überraschung wurde, auf die Unterstützung von überraschend vielen Bürgern.

Zeichen setzen

Ein Zeichen sollte hier gesetzt werden, ein Zeichen der Verbockung, im doppelten Sinne: einen Fehler begehen, einen Missgriff tun, und sich dafür weder entschuldigen noch zur Rechenschaft ziehen lassen, sondern den Fehler fortsetzen, selbstbewusst und unbelehrbar. Die plötzlich so offensichtliche Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz trägt fundamentalistische Züge. Denn sie ist, eben weil sie so demonstrativ, so ganz bild- und symbolorientiert daherkommt (man denke nur an das Plakat mit den raketengleichen Minaretten und den dunkel drohenden Augen unter der Burka), von einem tiefen Zweifel an sich selbst getragen - einem Zweifel, gegen den man sich durch die Tat immunisieren will: endlich einmal eine schlechte Zensur wagen.

Die Schweiz war einmal, und es ist nicht lange her, eines der schönsten und reichsten Länder der Welt, geachtet auf der ganzen Welt, respektiert als Mittler zwischen den großen Mächten, souverän und befriedet - ein relativ kleiner, zentral (und landschaftlich reizvoll) gelegener Staat, der zu niemandem gehörte, den aber alle brauchten, ein guter Makler, dem keiner übelnahm, wenn er als Vermittler auch reich wurde. Seit den neunziger Jahren, seit dem Ende der großen politischen Blöcke, besteht indessen kein Bedarf mehr an einem solchermaßen neutralen Ort.

Seitdem verwandelt sich die Schweiz, Stück für Stück, Niederlage nach Niederlage, vom "Grounding" der Swissair im Jahr 2001 bis zur, nach Schweizer Recht womöglich illegalen, Herausgabe von Kundendaten der UBS an amerikanische Behörden im vergangenen Februar, in den kleinen Staat innerhalb einer globalisierten Ökonomie, mit dessen überschaubarer Größe sie allenfalls noch kokettiert - während sie es eigentlich ganz unerträglich findet, in welchem Maße die deutsche, die europäische und die amerikanische Politik im eigenen Land die Regeln setzt, in welchem Maße sie also abhängig ist.

Von Ouagadougou, von der Hauptstadt Burkina Fasos, sprach Peer Steinbrück, der gewesene Finanzminister Deutschlands, als er im Mai dieses Jahres die kleinen Staaten Westeuropas zur einer OECD-Nachfolgekonferenz einlud, nicht ohne sie zu verhöhnen - und damit meinte er auch die Schweiz. Der Vergleich war undiplomatisch gewählt und wurde so, als Absage an alle Verhandlungen, auch verstanden. Zu Recht. Denn Argumente, Begründungen werden nur zwischen zumindest formal Gleichen ausgetauscht, zwischen Starken und Schwachen hingegen genügt in der Regel das Herzeigen der Instrumente.

Mit den entsprechenden Folgen: Man kann sich darüber wundern, wenn sich etwa die Kantone der Innerschweiz, heroische Landschaften also, in denen weit und breit kein Minarett und keine Burka zu sehen sind und vermutlich auch nicht zu sehen sein werden, so dezidiert für ein Verbot aussprechen. Tatsächlich aber reagiert hier auf die Sprachlosigkeit der Macht eine Sprachlosigkeit der Schwäche. Und aus allen Begründungen ist der Geist ausgefahren, weil man sich nur noch, gegen den Stand der Dinge, womöglich auch gegen besseres Wissen, mit allen Mitteln wehrt. Die Fassungslosigkeit, mit der man am Sonntagabend unter aufgeklärten Schweizern auf das Wahlverhalten der eigenen Landsleute reagierte, antwortet auf deren Entschlossenheit, die eigene Lage nicht zur Kenntnis zu nehmen.

In vielen Schweizer Städten - wie hier in Lausanne - wurde gegen die Entscheidung protestiert. (Foto: Foto: dpa)

Vom Wesen des "Kleinstaats"

Es geschieht noch etwas Zweites in dieser Wahl: Im selben Maße, in dem man nicht mehr diskutiert, entsteht die Illusion eines wortlosen Zusammenschlusses - einer Eidgenossenschaft im ursprünglichen Sinne des Wortes, einer Landnahme und Volksstiftung durch einen schlichten Akt des Willens. Zwar war in den vergangenen Jahren in der Schweiz viel vom "Kleinstaat" als der alten, neuen Perspektive des Landes die Rede. Als die Neutralität in den Augen der Welt kein Privileg mehr darstellte, sollte der "Kleinstaat" zum nationalen Vorteil werden, als Vision von Beweglichkeit und Modernität, als gegenüber allen zukünftigen Zerstörungen resistenter Kernbestand der Schweiz.

Doch steckt im "Kleinstaat" eben auch etwas Reaktionäres: die Sehnsucht, sich (wieder?) ohne Umschweife, ohne Diskussionen auf etwas Festes berufen zu können. Der "Kleinstaat" ist der letzte Rest des Glaubens an das Gelobte Land, an die nationale Immobilie in Zeiten globaler Bodenlosigkeit. Und schon im "Kleinstaat", einer Ideologie, der bei weitem nicht nur Schweizer Rechtspopulisten anhängen, verbirgt sich eine Idee von Verschworenheit gegen den Rest der Welt, eine Idee, bei der es nicht viel braucht, damit sie sich, ein wenig verwässert, ein wenig vertieft, in ein dumpfes Ressentiment verwandelt. "Endlich einmal eine schlechte Zensur wagen" - mit diesem Satz endete das Klagelied des Ökonomen Radu Golban. Und er bedeutet hier: Die Schweiz soll das Land sein, auf das die Welt schaut, und sei es im Bösen.

Wenig spricht indessen dafür, dass der westliche Fundamentalismus, so wie er sich am vergangenen Sonntag in der Schweiz artikulierte, eine einzigartige Errungenschaft der Eidgenossen ist und bleibt. "Alles Ständische verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen", heißt es im "Kommunistischen Manifest" von Friedrich Engels und Karl Marx. Und wenn sie es nicht tun? Wenn sie darauf beharren, sich gegen ihre eigenen Zweifel durch Beschwörungen ihrer selbst, ihrer vermeintlichen Kultur, ihrer vermeintlichen Landschaft zu immunisieren?

Es hat seinen Grund, wenn sich in das Bedauern über das Verhalten der Schweizer Wähler immer wieder die Sorge mischt, dergleichen könnte, ob mit oder ohne direktes Wahlrecht, auch anderswo in Europa passieren. Dann wäre die Schweiz genau das, was sie als neutraler, demokratischer und reicher Staat immer sein wollte: ein Pionier für die Welt.

© SZ vom 2.12.2009/mati - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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