Am 7. Februar vor 50 Jahren stimmten die männlichen Schweizer darüber ab, ob sie den Frauen das Wahl- und Stimmrecht zugestehen wollen. Es war bereits der zweite Versuch, nachdem ein erster Volksentscheid 1959 gescheitert war. 1971 stimmten schließlich zwei Drittel der Männer dafür. Die Schweiz gehört damit zu den letzten Länder Europas, die das Frauenwahlrecht einführten, nur Portugal und Liechtenstein waren später dran.
Andrea Maihofer, bis zu ihrer Emeritierung 2020 Professorin für Geschlechterforschung und Leiterin des Zentrums Gender Studies an der Uni Basel, ist Expertin für die Geschichte des Schweizer Frauenstimmrechts. In dem neu erschienenen Sammelband "50 Jahre Frauenstimmrecht" (hrsg. von Isabel Rohner und Irène Schäppi) vertritt Maihofer die These, dass die späte Einführung historisches Unrecht war. Sie fordert eine Entschuldigung der Schweizer Regierung.
SZ: Frau Maihofer, warum dauerte es so lange, bis die Schweiz auch die andere Hälfte ihrer Bevölkerung bei der Demokratie mitmachen ließ?
Andrea Maihofer: Die Schweiz verstand sich noch bis in die Fünfzigerjahre explizit als Männerstaat. Dieses Wort steht tatsächlich in der Botschaft des Schweizer Bundesrates von 1957, in der die Regierung Stellung nimmt zum Frauenstimmrecht. Das Politische galt zwar in allen westlichen Gesellschaften als Männersache, aber in der Schweiz mit ihren vielen Abstimmungsmöglichkeiten vergewisserten sich die Männer in besonderem Maße ihrer männlichen Überlegenheit, indem sie zur Abstimmung oder zur Wahl gingen. Das heißt: Es ging in der Schweiz einfach um mehr.
Trotzdem waren Regierung und Parlament ja schon früher für die Einführung des Frauenstimmrechts, wie Sie schreiben. Wieso also erst 1971?
Es ist ein großer Unterschied, ob Regierung und Parlament über so etwas entscheiden oder jeder einzelne betroffene Mann. Diese Männer mussten keine Rücksicht auf politische Kompromisse nehmen. Sie konnten sich einfach dagegen entscheiden, ihre Rechte und Privilegien zu teilen, ohne dass das Konsequenzen für sie hatte. Parlamentarische Prozesse funktionieren da anders.
Hätten die Frauen also auch anderswo länger aufs Wahlrecht warten müssen, wenn sie die Zustimmung der Männer gebraucht hätten?
Ja, das halte ich für sehr wahrscheinlich.
Wieso war die Abstimmung denn überhaupt nötig?
Viele Schweizerinnen - und auch einige Schweizer Männer - haben immer wieder versucht, das Frauenstimmrecht auf dem juristischen Weg, also über eine Neuinterpretation der Verfassung von 1874 zu erreichen. Darin steht: "Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich." Man hätte also einfach sagen können, dass damit generell auch Frauen gemeint sind.
Waren sie aber nicht?
Nein. Das Bundesgericht betonte 1923, dass in dem Artikel, in dem es um das Stimmrecht geht, nur "die Schweizerbürger männlichen Geschlechts" gemeint seien. Damit war klar, dass es eine Änderung der Verfassung braucht. Und über Verfassungsänderungen muss in der Schweiz das Volk entscheiden. Und das war damals eben: ausschließlich das männliche Volk.
Die Nennung der weiblichen Form war also schon damals ein Politikum.
In der Tat! Deshalb verweise ich in meinen Vorlesungen auch immer auf diese Geschichte. Sie zeigt, wie wichtig es ist, von Schweizerinnen und Schweizern zu sprechen.
In Ihrem Aufsatz vertreten Sie die Auffassung, dass die späte Einführung des Frauenstimmrechts Unrecht war. Können Sie das erläutern?
Schon im 19. Jahrhundert haben Schweizerinnen beklagt, dass "die demokratische Urschweiz" ihnen die Gleichstellung verwehrte. Dass die Menschen einander ebenbürtig sind und deshalb als gleichberechtigte Menschen anerkannt werden sollten, war schon damals eine zentrale Forderung. Es gab ja bereits die französische Erklärung der Menschenrechte als normative Orientierung. Dass ihnen trotzdem das Wahlrecht verweigert wurde, verletzte die Menschenwürde vieler Frauen.
Aber reicht das, um von Unrecht zu sprechen? Die politische Gleichstellung der Geschlechter stand ja auch in anderen Ländern damals noch am Anfang.
Das stimmt. Aber auch da ist die Botschaft des Bundesrats von 1957 aufschlussreich. Denn darin räumt die Regierung ein, dass die Frage der Verschiedenheit der Geschlechter inzwischen anders beantwortet werden muss als noch in den Jahrzehnten zuvor. Die Bundesräte betonen, dass eine Angleichung der Frau an den Mann stattgefunden habe und es deshalb ein "Gebot der Gerechtigkeit" sei, den Frauen endlich das Stimmrecht zu geben. Die Mehrheit der Männer stimmte zwei Jahre später trotzdem dagegen. Spätestens ab 1957 muss man es also als Unrecht bezeichnen, dass Frauen nicht wählen und abstimmen durften.
Sie fordern deshalb eine Entschuldigung der Schweizer Regierung.
Ja. Man sollte die Chance des Jubiläums nutzen, um anzuerkennen, dass den Frauen über viele Jahre Unrecht geschehen ist. Aber diese Entschuldigung darf natürlich kein Schlusspunkt sein. Es geht vor allem um eine breite gesellschaftliche Debatte darüber, wie es zu diesem Unrecht kommen konnte. Dahinter steht nämlich der Mechanismus, Menschen für minderwertig zu erklären, um deren Diskriminierung zu rechtfertigen - und das passiert ja bis heute! Das muss man verstehen, um jegliche Form der Diskriminierung zu überwinden.
Entwertet eine solche Geste nicht schlimmeres Unrecht, das Schweizern widerfahren ist, zum Beispiel das Leid der Verdingkinder? Bei ihnen hat sich die Schweizer Regierung erst 2013 entschuldigt.
Es geht doch nicht darum, Leid gegeneinander aufzurechnen. Die Menschenwürde hat man in beiden Fällen verletzt. Für die Betroffenen hatte das aber unterschiedliche Folgen. Verdingkinder haben unermessliches Leid erlebt. Wenn sich der Bundesrat nun auch bei den Frauen entschuldigt, setzt das die Erfahrungen anderer Opfer von Diskriminierung nicht zurück. Im Gegenteil: Es macht einmal mehr deutlich, wie gefährlich es ist, wenn Menschen nicht als Menschen mit gleichen Rechten anerkannt werden.