Schulen in der Pandemie:Ein Jahr zum Vergessen

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Laschet macht ein Ende der Maskenpflicht zum neuen Schuljahr abhängig von niedrigen Inzidenzen. (Foto: Matthias Balk/dpa)

Wie haben sich die Schulschließungen auf die Lernleistungen ausgewirkt? In Deutschland fehlen aussagekräftige Daten bislang, doch ein Blick in die internationale Forschung gibt Anlass zur Sorge. Zumal es auf längere Sicht noch ein größeres Problem gibt.

Von Klaus Zierer

Seit mehreren Monaten hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Die ergriffenen Maßnahmen wirken nicht immer wie erhofft und ziehen Kollateralschäden nach sich, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Eine der derzeit drängendsten Fragen lautet: Welchen Einfluss haben Schulschließungen mit Distanzunterricht auf die Lernleistungen?

Während in der Diskussion viele Meinungen kursieren, die zwischen Apokalypse und Euphorie changieren, zeigt ein Blick in die Forschung: In Deutschland gibt es zu der Frage überhaupt noch keine aussagekräftigen Untersuchungen. Bildungspolitisch ist das bemerkenswert. Während auf das Corona-Virus massenhaft getestet wird, erfolgen keine vergleichenden Leistungserhebungen bei Lernenden. Im Gegenteil: Sie werden sogar abgesagt. Damit wird eine große Chance vertan, endlich Daten für die Debatte zu bekommen. So drängt sich die Frage auf, ob die Verantwortlichen überhaupt wissen wollen, was die Schulschließungen angerichtet haben.

Vor diesem Hintergrund wurde am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Universität Augsburg eine Meta-Analyse durchgeführt. Dabei wird davon ausgegangen, dass internationale Studien - bei allen Unterschieden - auf Deutschland übertragbar sind. Denn die ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sind auf der ganzen Welt ähnlich.

Der Datensatz der Meta-Analyse umfasst die Lernleistungen von über 600 000 Lernenden aus drei Ländern (Niederlande, Schweiz, USA). Ausgewertet wurde die Entwicklung der mathematischen und der muttersprachlichen (Lesen, Rechtschreibung und Grammatik) Kompetenz in der Primarstufe, weil hier ein Vergleich möglich war. Durch Lerntests zwischen März und Mai 2020 bzw. durch den Vergleich alljährlich stattfindender Lerntests mit früheren Jahren wurde berechnet, welchen Effekt der erste, etwa achtwöchige schulische Lockdown hatte.

Klaus Zierer ist Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik an der Universität Augsburg. Bevor er die akademische Laufbahn einschlug, arbeitete Zierer fünf Jahre lang als Grundschullehrer. (Foto: Klaus Zierer/Klaus Zierer)

Das Ergebnis ist eindeutig und nicht überraschend: In allen untersuchten Ländern haben die Schulschließungen mit Distanzunterricht zu einem negativen Effekt auf Seiten der Lernenden geführt. Der Rückgang der Lernleistungen entspricht durchschnittlich und hochgerechnet auf ein Schuljahr etwa dem Verlust eines halben Schuljahres. Er ist damit größer als die Dauer des Lockdowns selbst, weil sich die eingefangenen Lernrückstände im Lauf des Schuljahres aufgrund fehlender pädagogischer Unterstützungsmaßnahmen noch weiter verstärkten. Bei der mathematischen Kompetenz ist er ebenso feststellbar wie bei der muttersprachlichen Kompetenz und er trifft alle Lernenden - unabhängig von Alter, Geschlecht und Leistungsstand. Bemerkenswert ist, dass die negativen Auswirkungen in bildungsfernen Milieus noch stärker sind und je nach Bildungsungleichheit sogar bis zum doppelten Maß reichen können. Am meisten betroffen sind ethnische Minderheiten sowie einkommensschwache Familien. Die Corona-Pandemie wird dadurch im Bildungsbereich zu einem Treiber von Bildungsungerechtigkeit.

Sicherlich ist bei der Interpretation der Zahlen zu beachten, dass Schulen weltweit auf den Lockdown nicht vorbereitet waren und sich die schulischen Aktivitäten in der Zwischenzeit verbessert haben. So ist davon auszugehen, dass die Effekte in den weiteren Wochen der Schulschließung nicht mehr so negativ sein müssen. Allerdings ist demgegenüber in Betracht zu ziehen, dass die untersuchten Länder im Vergleich zu Deutschland allesamt auf einer besseren Digitalisierung des Bildungssystems aufbauen konnten und zudem die Schulschließungen mittlerweile deutlich mehr als acht Wochen umfassen. Nach inzwischen zwei Lockdowns ist davon auszugehen, dass viele Lernende um ein ganzes Schuljahr zurückgeworfen wurden.

Vereinzelt ist zu hören, dass es doch gar nicht so schlimm sei, wenn Grundschüler hinterherhinken. Sie hätten doch noch ausreichend Zeit, Verlorenes aufzuholen. Wichtiger sei, dass Lernende in den weiterführenden Schulen Anschluss halten konnten, worauf beispielsweise die Ergebnisse der Schweizer Studie hinweisen. Allerdings ist aus Studien zu Lernrückständen bekannt, dass es für den Lernerfolg besser ist, Lücken von vornherein zu vermeiden. Also Prävention vor Intervention. Sind Lücken erst einmal aufgetreten, werden sie in der Regel immer größer, weil sie nur schwer und nur unter großem finanziellen, organisatorischen und pädagogischen Aufwand geschlossen werden können.

Die Basis jeder Förderung ist Diagnose

Die internationale Forschungslage ist zumindest für den Primarbereich eindeutig. So ist es an der Zeit, konkrete Vorschläge zu erarbeiten, um eine Bildungskatastrophe abzuwenden. Dabei wird darauf zu achten sein, dass nicht nur Strukturmaßnahmen, wie eine Verlängerung des Schuljahres oder ein einfaches Wiederholungsjahr, angedacht werden, sondern vor allem über die Qualitätssicherung in diesen Strukturmaßnahmen zu entscheiden ist.

Wichtige Fragen sind: Wie werden Lernende getestet, bevor die Unterstützungsangebote beginnen? Eine aussagekräftige Diagnose ist die Basis jeder Förderung. Ohne dieses Wissen ist jede Sommerschule, jede Hausaufgabenbetreuung, jeder Nachmittagskurs zum Scheitern verurteilt. Hier könnten die landesweiten Vergleichsarbeiten helfen, um festzustellen, was wirklich gelernt worden ist und wo die Lücken sind. Welche Verfahren zur Förderung gibt es? Durchdachte Lernpfade - also ein Angebot an herausfordernden Aufgaben je nach diagnostiziertem Leistungsniveau - wären das mindeste, liegen bis heute aber nicht vor. Welche Gruppenbildung wird angestrebt? Alle Lernenden gleich zu behandeln, schafft keine Bildungsgerechtigkeit. Wie werden Lehrpersonen darauf vorbereitet? Individuelle Förderung ist die pädagogische Königsklasse, so dass eine Professionalisierung in diesem Bereich erforderlich wäre. Und schließlich: Wie werden Eltern mitgenommen? Sie sind mit entscheidend für Schulerfolg, sich ihrer Rolle aber häufig nicht bewusst. Es wäre wichtig, Eltern bei allen Unterstützungsmaßnahmen einzubinden und ihnen zu helfen, damit sie ihren Kindern helfen können.

Bei allem berechtigten Schielen auf die Lernleistungen, eines darf nicht vergessen werden: Bildung umfasst mehr. Und auch hier gibt es Evidenz. Beispielsweise nehmen im Zug der Corona-Maßnahmen psychische und psychosomatische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zu. Die körperliche Verfassung vieler Menschen ist aufgrund einer Zunahme von Bildschirmzeiten und dadurch bedingter Bewegungsreduktion angeschlagen - Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Milieus sind erneut stärker betroffen. Schließlich zeigen Befragungen von Lernenden, dass sich bei vielen von ihnen das Lernverhalten verschlechtert hat und die Lernmotivation zurückgegangen ist. Auf längere Sicht sind diese Faktoren schwerwiegender als der Rückgang der Lernleistungen, weil sie für diese das Fundament bilden. Der so verursachte Schaden ist noch gar nicht sichtbar. Sichtbar sind lediglich seine Vorboten.

Deshalb sind unbedingt Maßnahmen zu ergreifen, die Lernende in sozialer, emotionaler und körperlicher Hinsicht fördern: Ein verpflichtender Schullandheimaufenthalt für alle Klassen, die Stärkung von Kunst, Musik und Sport sowie eine damit verbundene Entrümpelung der Lehrpläne. Das ist die Chance in der Krise: Schule neu zu denken - bildungswirksamer, vielseitiger, gerechter und in diesem Sinn humaner. Noch ist es für all das nicht zu spät, aber allzu viel Zeit bleibt nicht mehr.

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