In einer europapolitischen Grundsatzrede ruft Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Europäische Union zu Reformen auf. "Um Europa einen guten Platz in der Welt von morgen" zu sichern, brauche man eine geopolitische, erweiterte, reformierte und zukunftsoffene EU, sagte Scholz vor dem Europäischen Parlament in Straßburg.
Selten habe die EU so geschlossen zusammengestanden wie seit dem russischen Angriff auf die Ukraine. Doch weil einzelne Mitgliedstaaten ihre Stimme verweigern oder als Druckmittel benutzen, ziehen sich viele Entscheidungen noch immer sehr lange hin. Scholz forderte deshalb eine "reformierte EU". Künftig sollten mehr Ratsentscheidungen nicht einstimmig getroffen werden müssen, sondern mit qualifizierter Mehrheit. Diese Debatte hat in den vergangenen Monaten an Fahrt aufgenommen, Scholz nannte insbesondere die Themenbereiche Außenpolitik und Steuern.
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Für eine qualifizierte Mehrheit müssen einem Vorschlag mindestens 55 Prozent der Staaten zustimmen, die zugleich mindestens 65 Prozent der EU-Einwohner repräsentieren. Gerade kleinere Mitgliedstaaten könnten dabei aber die Sorge haben, in Entscheidungsprozesse nicht mehr einbezogen zu werden, wenn es auf ihre Stimme nicht mehr ankommt.
Scholz versuchte die "qualifizierte" Mehrheit in seiner Rede als demokratischen Fortschritt darzustellen: "Nicht die Einstimmigkeit, nicht 100 Prozent Zustimmung zu allen Entscheidungen schafft größtmögliche demokratische Legitimität. Im Gegenteil!" Gerade das Werben und Ringen um Mehrheiten und Allianzen zeichne Demokraten aus.
Scholz hob in seiner Rede explizit die Bedeutung einer geopolitischen EU hervor. Er wandte sich mit freundlichen Worten an Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft: "Wir haben den Bürgerinnen und Bürgern der Westbalkan-Staaten, der Ukraine, Moldaus und perspektivisch auch Georgiens gesagt: Ihr gehört zu uns. Wir möchten, dass ihr Teil unserer Europäischen Union werdet", so Scholz. Dabei gehe es auch darum, den Frieden nach der "Zeitenwende, die Russlands Angriffskrieg bedeutet, dauerhaft abzusichern". So müsse etwa für Nordmazedonien "ein zügiger Beitrittsfortschritt folgen".
Scholz wirbt um internationale Partner
In einer multilateralen Welt müsse Europa "den eurozentristischen Blick der vergangenen Jahrzehnte" hinter sich lassen und Partnerschaften auf Augenhöhe "mit den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas" schaffen. Scholz umwarb den Globalen Süden auch deshalb, weil China dort seit geraumer Zeit versucht, sich wirtschaftlich und politisch auszubreiten. Rivalität und Wettbewerb seitens Chinas hätten "ohne jeden Zweifel zugenommen", so Scholz.
Mit Blick auf den Wettstreit zwischen China und den USA hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zuletzt eine unabhängigere Rolle der EU als "dritter Pol" gefordert. Die Europäer dürften nicht zu "Vasallen" der USA werden und nicht in Krisen geraten, "die nicht die unseren sind", sagte er mit Blick auf das von China beanspruchte Taiwan.
Ohne Macron direkt zu erwähnen, sagte Scholz: "Wer nostalgisch dem Traum europäischer Weltmacht nachhängt, wer nationale Großmachtfantasien bedient, der steckt in der Vergangenheit." Scholz stellte zudem klar: "Die Vereinigten Staaten bleiben Europas wichtigster Verbündeter." In dem Maße, in dem Europa in Verteidigung, technologische Souveränität, Lieferketten und Unabhängigkeit bei kritischen Rohstoffen investiere, "in diesem Maße sind wir unseren transatlantischen Freunden bessere Verbündete".