Schlichterspruch in Stuttgart:Das nächste Mal bitte rechtzeitig

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Heiner Geißlers Schlichtung in Stuttgart war ein Experiment, sein Ausgang ist noch unklar. Doch für die Demokratie ist es schon jetzt ein Erfolg.

Dagmar Deckstein

Es nähert sich nun langsam seinem Ende, jenes bisher einmalige Unterfangen, das Heiner Geißler anfangs als "Demokratie-Experiment" bezeichnete. Eine "Sach- und Fachschlichtung" strebte der Mediator beim so verfahrenen wie erbitterten Streit um das Stuttgarter Bahnprojekt an, das die ganze Republik über Monate hinweg entgeistert auf die Landeshauptstadt im Schwäbischen hat blicken lassen.

Interaktive Grafik zu Stuttgart 21
:Wer, was, wo?

Wer besetzte aus Protest den Nordflügel des Hauptbahnhofs? Was hat da der Juchtenkäfer zu suchen? Und wie sieht eine Lichtkuppel aus? Das Wichtigste zum umstrittenen Großprojekt Stuttgart 21.

Nach nun fast 60 Stunden öffentlicher Erörterungen zwischen Befürwortern und Gegnern, die Millionen Menschen im Internet und im Fernsehen mitverfolgen konnten, ist ein großer und vielleicht zukunftweisender Erfolg bereits zu besichtigen: eine bemerkenswerte Deeskalation des emotional aufgeheizten Konflikts, eine relative Befriedung an den verhärteten Fronten zwischen Protestbürgern und Projektplanern.

Eines der Zwischenresümees des Schlichters lautet: Es werde künftig kein Großprojekt in Deutschland mehr geben, das nach der bisherigen Methode durchgedrückt wird. Geißlers Demokratie-Experiment mündet vorläufig in die zur Nachahmung empfohlene, zukunftsträchtige Parole: Es lebe die Sachlichkeit! Trotz des einsetzenden Landtagswahlkampfs in Baden-Württemberg ist es dem Schlichter immerhin gelungen, die beiden Streitparteien nebst ihren Expertenstäben zu einem gesitteten Austausch von Argumenten und Gegenargumenten zu disziplinieren.

Dass dabei eine Überfülle zum Teil verwirrender Details zur Sprache kamen, mag bei manch interessiertem Zuschauer zur Ermüdung beigetragen haben. Andererseits lag aber gerade darin ein Faszinosum dieser Schlichtung: in den akribischen Erörterungen von unterschiedlichen Bahnsteighöhen in Deutschland, von Quelldrücken und Tunnelauflockerungszonen, von Taktplänen im Zugverkehr, von Sollbruchstellen bei Kostenoberplanungen.

Wider die Katastrophensszenarien

Zumindest schürten die Freitags-Aufführungen im Stuttgarter Rathaus den Eindruck, dass es durchaus möglich ist, zuvor nie zufriedenstellend beantwortete Fragen eingehend auseinandergedröselt und erklärt zu bekommen. So konnten auch allerlei von den Gegnern ausgemalte Katastrophenszenarien überzeugend widerlegt werden. Häuser werden nicht im Stuttgarter Talkessel versinken, der Tiefbahnhof wird aus dem Boden ploppen. Die Bahn wiederum gab zu, dass die angeblich alternativlose "europäische Magistrale Paris-Bratislava" nicht zwingend das Bahnprojekt Stuttgart 21 zur Bedingung habe.

Wie immer Geißlers Schlichterspruch ausfallen mag, er wird beide Seiten von ihren Maximalpositionen Abschied nehmen heißen. Das Demokratie-Experiment indes zeigt schon jetzt Wirkung. Soeben erst hat Rottweil mit Blick auf Stuttgart entschieden, die Bürger über ein umstrittenes Großgefängnis abstimmen zu lassen. Basta-Politik hier, wilde Unterstellungen dort, das war gestern. Stuttgart21 lehrt, dass es tatsächlich anders geht - gesittet, sachlich. Aber am besten wäre: rechtzeitig.

© SZ vom 27.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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