Russland:"Wir alle fühlen wirklich mit"

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Vor dem Sockel, auf dem die Bronzestatue der ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka steht, liegen Blumen zum Zeichen der Trauer. (Foto: AFP)

Sagt eine Moskauerin, die am Denkmal einer ukrainischen Dichterin Blumen für die Toten von Dnipro niederlegt. Tatsächlich ist sie nicht allein - doch der Rückhalt für Putins Krieg überwiegt.

Von Silke Bigalke, Moskau

Der Polizeiwagen steht immer noch auf dem kleinen Parkstreifen mitten in Moskau. Sein Blaulicht ist durch die Bäume zu sehen, es leuchtet den Weg zum Denkmal. Die Bronzestatue der ukrainischen Dichterin Lessja Ukrajinka ist seit Tagen Schauplatz einer in Russland sehr seltenen öffentlichen Demonstration: Moskauer legen dort Blumen für die zivilen Opfer in der Ukraine ab.

Es begann Anfang vergangener Woche, nachdem russische Raketen einen Wohnblock in der ukrainischen Großstadt Dnipro zerstört hatten und dabei mindestens 46 Menschen getötet wurden. Der Kreml gab der ukrainischen Seite die Schuld an den Opfern; wie meistens, wenn Zivilisten in Wladimir Putins Krieg ihr Leben verlieren.

Die Menschen, die jetzt zum Denkmal kommen, glauben nicht daran. Ihre stille, aber öffentliche Trauer um die Toten ist bemerkenswert in einem Land, in dem jede Kritik an der russischen Armee strafbar ist. Damit die Anteilnahme am provisorischen Mahnmal nicht in allzu sichtbaren Protest umschlägt, steht der Polizeiwagen dort. Die Beamten lassen die Menschen zwar Blumen ablegen. Doch Fotos von zerstörten Gebäuden in Dnipro werden entfernt. Kommen mehrere Menschen gleichzeitig zur Statue, schreitet die Polizei ein. Und damit die Blumen nicht zum Blumenmeer werden, räumen die Beamten sie regelmäßig weg.

"Es hat keinen Sinn mehr, Angst zu haben", sagt Anna

Auch am Sonntagabend, als es schon dunkel ist, bleiben immer wieder Menschen vor dem Mahnmal stehen. Manche bringen Blumen, andere halten nur kurz inne. Anna, 33, nimmt den Weg von hinten über das dicke Eis, das die Wiese bedeckt. So vermeidet sie den Polizeiwagen. Die Moskauerin legt einen kleinen Strauß orangefarbener Blumen vor der Bronzestatue ab. Warum ist sie trotz des Risikos gekommen? Weil in der Ukraine ein Wohnhaus zerstört wurde, sagt Anna und macht sich auf den Rückweg. "Das ist schrecklich. Wir alle fühlen wirklich mit." Ihr sei es wichtig, irgendetwas zu tun, um das zu zeigen. Daran, dass die Polizei sie jederzeit festhalten könnte, hätten sich die Moskauer ohnehin gewöhnt. "Das Schlimmste ist längst passiert", sagt Anna. "Es hat keinen Sinn mehr, Angst zu haben."

Andere wollen nicht reden. Eine Moskauerin hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, darunter einen Kopfhörer auf den Ohren. Taub für ihre Umwelt läuft sie zügig zum Denkmal, bringt weiße Nelken in braunes Papier gewickelt. Gleich am zweiten Tag nahm die Polizei vier Personen fest, zwei hatten laut der Bürgerrechtsorganisation OWD-Info Blumen gebracht, zwei standen nur dabei. Danach parkte eine Zeitlang sogar ein Gefangenenbus unweit der Bronzefigur. Am Samstag nahm die Polizei eine junge Frau fest, die sich mit einem Plakat davorgestellt hatte: "Ukraine - nicht unsere Feinde, sondern Brüder", stand darauf.

Auch in anderen russischen Städten gedenken Menschen der ukrainischen Opfer. In Krasnodar und Sankt Petersburg haben sie dafür Statuen des ukrainischen Dichters Taras Schewtschenko ausgewählt. In Sankt Petersburg bildeten sie aus Kerzen das Wort Dnipro. In Jekaterinburg lagen Blumen vor einem Denkmal für Opfer des stalinistischen Terrors. Daneben stand eine kleine Tafel mit dem Datum 14.01.2023 - dem Tag des russischen Raketenangriffs auf die ukrainische Stadt.

Eine große Mehrheit heißt den Feldzug gut

Es sind seltene Bilder in Putins Russland, wo eine Mehrheit der Menschen dessen Feldzug gutheißt. In einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums antworteten im November 74 Prozent, dass sie das Vorgehen der russischen Streitkräfte unterstützten. Wer in Russland gegen den Krieg ist, traut sich selten, dies öffentlich zu sagen. Viele Kritiker haben das Land verlassen oder sitzen in Haft.

Proteste wie nun zum zweiten Jahrestag von Alexej Nawalnys Festnahme gibt es höchstens noch außerhalb Russlands, in London und Belgrad, Vilnius und Eriwan. Exilrussen forderten am Wochenende nicht nur, politische Gefangene freizulassen, sondern auch ein Ende des Krieges. In Russland dagegen gab es höchstens Einzelproteste: Ein Mann in Barnaul stellte sich in den sibirischen Schnee und hielt eine Pappe, nicht größer als eine Visitenkarte, mit der Aufschrift "Kein Krieg" hoch. Er wurde festgenommen.

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Die russische Propaganda aber hat sich in den vergangenen Tagen mit anderen Dingen beschäftigt: Mit einiger Häme berichtete sie, dass es in Ramstein keine Einigung über deutsche Panzerlieferungen an die Ukraine gab. Der Kreml stellt die europäischen Länder seit Langem als Befehlsempfänger der USA dar, die sich dem Druck aus Washington beugen, wenn sie der Ukraine Waffen zur Verfügung stellen.

Gleichzeitig beschworen kremlnahe Kommentatoren Untergangsszenarien für den Fall, dass der Westen weiterhin auf eine russische Niederlage hinarbeite. Der frühere Premier und Präsident Dmitrij Medwedjew warnte davor, dass die "Niederlage einer Nuklearmacht" einen Atomkrieg auslösen könne. "Jeder Wunsch, Russland zu zerstören", schrieb Patriarch Kirill, Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, würde das "Ende der Welt bedeuten". Der Kreml mischte seine übliche Siegesgewissheit unter die Warnungen: So sagte Putins Sprecher Dmitrij Peskow schon vor dem Treffen in Ramstein, westliche Panzerlieferungen würden nichts am Verlauf des Konflikts ändern. Es sei ein "dramatischer Irrglaube" des Westens, dass sich die Ukraine auf dem Schlachtfeld durchsetzen könne.

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