Rumänien:Wenn die Polizei zum Fürchten ist

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Drei Mal rief das entführte Mädchen die Polizei an. Als die nach 19 Stunden kam, war sie in diesem Haus bei Caracal ermordet worden. (Foto: Daniel Mihailescu/AFP)
  • In Rumänien wurde eine 15-Jährige ermordet, weil die Polizei den Notrufen der Schülerin nur bedingt nachkam - und sich von der Mafia beeinflussen ließ.
  • Dazu kommt, dass die Ortung von Notrufen bis heute offenbar nicht lückenlos funktioniert.
  • Jetzt wollen Hunderttausende gegen Vetternwirtschaft und Korruption demonstrieren.

Von Florian Hassel, Warschau

Wenn Alexandra Măceșanu im Süden Rumäniens aus ihrem Dorf Dobrosloveni in die sieben Kilometer entfernte Kleinstadt Caracal wollte, hatte die 15 Jahre alte Schülerin nur eine Möglichkeit: per Anhalterin zu reisen. Öffentlichen Nahverkehr gibt es in jener Gegend seit Jahren nicht mehr. Und so trampte Alexandra auch am 24. Juli, als sie nach Caracal zu einem Treffen mit Freundinnen wollte. Dort aber kam sie nie an.

Vater Ioan Măceșanu meldet seine Tochter am gleichen Abend als vermisst. Und am 25. Juli meldete sich Alexandra selbst um 11.05 Uhr vormittags telefonisch beim Notruf 112: Sie sei entführt und vergewaltigt worden, teilte die 15-Jährige mit. Noch zwei weitere Male rief das Mädchen den Notruf an. Sie sagte, sie rufe an vom Mobiltelefon ihres Entführers, sie gab der Notrufzentrale sogar noch Informationen über das Auto des Entführers, den Weg, den er gefahren war, und ihren möglichen Aufenthaltsort in Caracal. Ihr dritter Anruf endete mit dem Schrei "Er kommt! Er kommt!"

Erst Stunden später durchsuchte die Polizei drei Orte, an denen sich Alexandra aufhalten sollte - es waren die falschen. Als die Polizei schließlich den wirklichen Aufenthaltsort des Mädchens herausfand - das Haus des 66 Jahre alten Mechanikers und Gelegenheitstaxifahrers Gheorghe D. - wartete sie nochmals weitere Stunden auf einen Durchsuchungsbefehl, obwohl das Gesetz bei Gefahr im Verzug Durchsuchungen unverzüglich erlaubt. Erst am Morgen des 26. Juli - das waren 19 Stunden nach den Notrufen der Entführten - stürmte die Polizei D.s Haus.

Ermordet, zerstückelt und verbrannt

Da hatte Gheroghe D. Alexandra Măceșanu bereits ermordet, zerstückelt und verbrannt, er hatte auch ihre Überreste im Wald entsorgt, wie er dem Staatsanwalt später gestand. Seitdem die Details dieses Mordes und weitere Umstände bekannt werden, erschüttert Rumänien ein sich ausweitendes politisches Erdbeben. Was dabei an die Oberfläche tritt, sind Vetternwirtschaft und Inkompetenz von Polizei und Ministern, Kontakte zur Mafia und möglicher Betrug der EU durch Bukarest.

Schon der mörderische Teil dieser Geschichte ist erschütternd: Gheorghe D. gab zu, bereits Mitte April eine weitere junge Frau entführt und ermordet zu haben, die 18 Jahre alte Luiza Melencu. Der Anwalt der Familie Melencu, Tonel Pop, sagte rumänischen Medien nach der Besichtigung von D.s Haus und Hof, es gebe dort "Tunnel, alle Arten von Bohrungen, Kellern und überall sinnlose, mit Zement gefüllte Stellen". Es handle sich womöglich um einen Friedhof, auf dem D. noch weitere Opfer beseitigt haben könnte. Und die Sonderstaatsanwaltschaft DIICOT meldete den Fund weiterer menschlicher Knochenreste.

Die Rumänen sind nicht nur entsetzt, sondern auch empört. Unter anderem, weil sie erfuhren, warum die Polizei stundenlang falsche angebliche Aufenthaltsorte der entführten Alexandra durchsucht hatte: Anrufen und Whatsapp-Nachrichten zufolge, die der Tageszeitung Libertatea zugespielt wurden, wandte sich ein Vize-Polizeichef in Caracal nach Alexandras Hilferufen an den Chef eines Mafiaclans, um das entführte Mädchen zu finden. Doch dieser Clanboss, der offiziell eine Sicherheitsfirma leitet, schickte die Polizei zu drei falschen Adressen: Dort wohnten Mitglieder eines konkurrierenden Clans. Die Clans sollen rumänischen Medien zufolge über enge Kontakte zur Polizeiführung verfügen.

Eigentlich hätte die Polizei den genauen Aufenthaltsort der entführten Alexandra binnen Minuten orten müssen. Seit 1991 gibt es in der EU die zentrale Notrufnummer 112. EU-Regeln verpflichten alle Telefonnetzbetreiber, den Behörden sofort Standortinformationen zur Verfügung zu stellen. Der universellen Service-Direktive der EU zufolge müssen zudem "Mitgliedsstaaten sicherstellen, dass Notdienste den Standort der Person, die 112 anruft, feststellen können" - gleich, ob der Notruf aus dem Festnetz oder von einem Mobiltelefon kommt.

Weitere Details heizten die Empörung an

Weil dies in Rumänien nicht der Fall war, verklagte die EU-Kommission Bukarest im September 2008 vor dem Europäischen Gerichtshof. Sie zog die Klage indes Anfang 2009 zurück, als Bukarest erklärte, es könne nun alle Notrufe auch von Mobiltelefonen orten. Doch das stimmte nicht. Im rumänischen Parlament sagte Sorin Balan, Vize-Chef des Speziellen Telekommunikationsdienstes (STS), am 29. Juli, die Ortung von Notrufen sei bis heute nicht lückenlos. Der Tageszeitung Adevă rul zufolge kaufte der Staat mangelhafte Software seinerzeit bei einem Mann namens Sebastian Ghita. Ghita war im Parlament für die regierenden Postkommunisten (PSD) jahrelang Vorsitzender des Ausschusses zur Aufsicht über den Geheimdienst SRI und Chef von Firmen, die Staatsaufträge in dreistelliger Millionenhöhe bekamen. Nachdem Rumäniens damals unabhängige Anti-Korruptionsbehörde DNA Ghita unter anderem wegen des Verdachts auf Bestechung und Geldwäsche ins Visier nahm, floh dieser Ende 2016 nach Serbien. Dort entzieht er sich bis heute dem Zugriff der Justiz.

Weitere Details heizten die Empörung an: Zwar wurden Innenminister und Erziehungsministerin ebenso gefeuert wie hochrangige Polizisten, Staatsanwälte und weitere Amtsträger. Doch der entlassene Polizeichef von Caracal erklärte, die Polizei habe "perfekt" gehandelt. Sein Nachfolger fiel vor zwei Jahren bei einer Eignungsprüfung durch. Und Rumäniens Polizeichef Ioan Buda wurde zwar entlassen, doch tags darauf klammheimlich zum Chef der Grenzpolizei ernannt. Und in der Stadt Galaţi weigerten sich zwei Polizisten, aus ihrem Streifenwagen auszusteigen, um einem blutüberströmten, mutmaßlich vergewaltigten 14 Jahre alten Mädchen zu helfen.

Rumäniens konservativer Präsident Klaus Johannis erklärte, die von der PSD geführte Regierung müsse sich fragen, ob sie nicht "der moralische Täter der Tragödie" von Caracal sei: Schließlich habe die Regierung in den letzten Jahren "Justizgesetze und Strafrecht massakriert, das Strafmaß" für Dutzende Straftaten gesenkt, "kompetente Beamte entlassen und an ihrer Stelle die Parteiklientel angeheuert". Am Samstag wollen nun in der Hauptstadt Bukarest viele Rumänen demonstrieren gegen Inkompetenz und Korruption der Regierung. Die Organisatoren rechnen mit bis zu einer Viertelmillion Teilnehmer. Die Regierung liegt Umfragen zufolge nun hinter den Oppositionsparteien - die nächste Parlamentswahl steht jedoch erst im Herbst 2020 an.

© SZ vom 08.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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