Ihr Ehemann ist tot, er wurde ermordet. Er war einer der 800 000 Menschen in Ruanda, die Kämpfer der Volksgruppe Hutu vor 24 Jahren innerhalb weniger Wochen auslöschten. Jeanette Mukabyagaju kennt den Mann, der ihn tötete. Er heißt Mathias, sie begegnet ihm jeden Tag, denn er wohnt nebenan. Mathias passt jetzt ab und zu auf ihre Kinder auf.
Es mag unglaublich klingen, doch Jeanette Mukabyagaju sagt, sie habe Mathias vergeben. Sie erzählt oft davon, mitunter mehrmals täglich. So oft kommen Touristen zu Besuch, um sich Geschichten wie diese anzuhören. Mukabyagaju kocht dann Bohnen und Kartoffeln für die Besucher und lässt sie in ihrem Wohnzimmer sitzen, wo ihr Ehemann aus einem vergilbten Foto und Jesus aus einer Zeichnung herabschauen. Mukabyagaju wohnt in einem "Versöhnungsdorf". Der Ort liegt etwa eine Stunde von Ruandas Hauptstadt Kigali entfernt und ist eine der neuen Attraktionen des Landes. Reiseunternehmen wie Wildlife Tours oder Africa Adventure Safaris bieten neben Gorillas und Vogelkunde jetzt auch Tagesausflüge voller Schauergeschichten und Tränen an. "Werde ein Psychotherapeut und helfe jemandem, seinen post-traumatischen Stress zu bewältigen", wirbt ein Safarianbieter auf seiner Webseite. Die Besucher erwarte im Versöhnungsdorf außerdem traditionelles Tanzen, Trommeln und Korbflechten.
Bundesentwicklungsminister Müller nennt das ostafrikanische Land "ein Erfolgsmodell"
Die Organisation Prison Fellowship, die mehrere dieser Dörfer in Ruanda aufgebaut hat, wird von der ruandischen Regierung und Spendern aus Deutschland, den Niederlanden und den USA finanziert. Ihre Mitarbeiter organisieren mittlerweile das Tanztraining für die Kinder, die sich mit Lendenschurz und Blätterkranz im Haar den Touristen präsentieren sollen. Ruanda, so lautet die Botschaft an die Welt, ist ein Land der Einheit und der Hoffnung. Präsident Paul Kagame lässt diese frohe Kunde nicht nur hier unter Touristengruppen verbreiten. Das Eigenlob gehört in Ruanda zum Regierungsprogramm.
Das kleine Land in Ostafrika hat seit dem Genozid 1994 einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Die Straßen Kigalis sind blitzsauber, der Präsident hat Plastiktüten verboten und jeden Bürger verpflichtet, einmal im Monat sein Viertel aufzuräumen. Im Parlament sitzen mehr Frauen als sonst irgendwo auf der Welt, der Präsident hat Frauenförderung auf seine Agenda gesetzt. Genauso wie er seinen Bürgern nach dem Genozid schlicht verboten hat, ihre Ethnie zu erkennen zu geben. Statt Hutu und Tutsi darf es heute nur noch Ruander geben, der Konflikt gilt als befriedet. Für Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU), der am Donnerstag zu einer Reise durch sieben afrikanische Länder aufbricht, ist Ruanda auch wegen solcher Entwicklungen einer der "Top-Staaten" auf dem sonst so schwierigen Kontinent. "Ein Erfolgsmodell", wie er sagt.
Müller hat sich nun vorgenommen, seine Afrika-Politik stärker auf die Förderung der Privatwirtschaft auszurichten. Er will deutsche Unternehmen zu Investitionen "in reformorientierten afrikanischen Ländern" ermutigen. Ruanda ist hier aus deutscher Sicht vorbildlich, unter Staatschef Kagame gilt das Land als sicher und stabil. Ein Grund dafür ist sein harter Führungsstil. "Die ruandische Regierung stellt vielen Menschen, die ausreisen wollen, keinen Reisepass aus", sagt der Hamburger Völkerrechtler Gerd Hankel, der in den vergangenen Jahren zu dem Staat geforscht hat. Kagame befürchte "eine Abstimmung mit den Füßen".
Im vergangenen Jahr war der Staatschef mit knapp 99 Prozent der Stimmen zum dritten Mal wiedergewählt worden. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die mangelnde Pressefreiheit im Land, auch eine nennenswerte Opposition gibt es nicht. Wer Kagame offen kritisiere, sagt Hankel, müsse damit rechnen, von der Polizei festgenommen und geschlagen zu werden oder staatliche Leistungen zu verlieren. Der Geheimdienst kontrolliere die Menschen bis in ihr Privatleben hinein, und auch die Arbeit ausländischer Entwicklungshelfer stehe unter Beobachtung. Minister Müller weiß um die schwierige Menschenrechtslage in Ruanda - und lässt sich die Zusammenarbeit doch nicht nehmen. Man werte es als "wichtigen Schritt zur weiteren Demokratisierung", dass die Wahlen trotz aller Kritik am Ergebnis friedlich verlaufen seien, heißt es aus seinem Haus. Außerdem habe sich Kagame zur Rechtsstaatlichkeit bekannt - jedenfalls mit Blick auf die nächsten 45 Jahre.
Heute allerdings bringt Kagames strenges Regiment wirtschaftliche Stabilität, und die ist für Müllers Anliegen sehr willkommen. Bereits im Frühling hatte er etwa gemeinsam mit den deutschen Firmen Siemens, Volkswagen, SAP und Inros Lackner das Projekt "Moving Rwanda" gestartet. Gefördert von der Bundesregierung sollen die Firmen ruandische Automechaniker und Software-Entwickler ausbilden.
Bisher ist die Volkswagen-Produktion in Kigali noch nicht angelaufen. In einer Halle am Stadtrand steht ein einsamer VW Golf unter einem Schild: "First Volkswagen assembled in Rwanda". Die Mechaniker seien gerade noch im Lehrgang, erklärt ein VW-Mitarbeiter. Er erwarte aber bald ganze acht neue Kollegen.
Deutlich mehr Jobs gibt es beim chinesischen Textilunternehmen C&H gegenüber. Dort produzieren rund 1000 ruandische Arbeiter Kleidung für Kunden in England, den USA und auch für die deutsche Modekette Kik. Man werde von der ruandischen Regierung unterstützt, sagt Marketingleiterin Malou Jontilano. Die staatliche Arbeitsagentur biete etwa Nähkurse an. Im Gegenzug bewirbt die Regierung ihre "vielversprechende" Textilindustrie, zum Beispiel im Rahmen der G-20-Investitionspartnerschaft, welche die deutsche Bundesregierung 2017 während ihrer Präsidentschaft angestoßen hat. Die Firma C&H hat es auf diese Weise bis in die G-20-Hochglanzbroschüre geschafft.
Wovon dort nichts steht, sind die geringen Löhne, von denen die Fabrikarbeiter berichten. Wenige Dollar Lohn am Tag reichen selbst in Ruanda kaum, um eine Familie zu ernähren. Vom Wirtschaftsaufschwung profitiert heute überwiegend eine kleine Elite in der Hauptstadt. Die Ungleichheit der Einkommen ist nach UN-Angaben hoch, auf dem Land herrscht Armut.
Staatschef Kagame weiß um diese Not, aber er weiß sie auch zu nutzen. Mehr als ein Drittel des Staatshaushalts basiert auf ausländischen Hilfszahlungen. Kagame verteilt das Geld gerne persönlich an die Ärmsten und vermarktet sich so zugleich als oberster Entwicklungshelfer. Das fremde Geld für Vorzeigedörfer und Projekte hilft nicht nur den Menschen. Es dient auch Kagames politischen Zielen.