Norbert Lammert ist kein Mann, der sich gern beschränken lässt. Der Bundestagspräsident schätzt die Freiheit seines Amtes fast so sehr wie sich selbst. Als der gerade gewählte Bundespräsident Joachim Gauck erklärte, er sei weder ein Supermann noch fehlerfrei, dachten nicht wenige, ein solches Bekenntnis würde auch dem Bundestagspräsidenten guttun.
Doch Lammert ist nicht nur ein überzeugter Selbstdarsteller, er ist auch ein leidenschaftlicher Kämpfer für die Rechte der Abgeordneten - zum Leidwesen der Fraktionsführungen. Deswegen sollen dem eigensinnigen Bundestagspräsidenten jetzt Fesseln angelegt werden.
Dabei geht es um nichts Geringeres als das Rederecht von Abgeordneten im Bundestag. Im Grundgesetz steht zwar, die Parlamentarier seien "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Im Alltag haben es die Abgeordneten allerdings mit dem Fraktionszwang und allerlei anderen Beschränkungen zu tun - wie zum Beispiel den Regeln zum Rederecht: Im Bundestag darf beileibe nicht jeder Abgeordnete reden, der reden will.
Um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten, haben die Fraktionen vereinbart, dass die Redezeit nach der "Berliner Stunde" aufgeteilt wird. Unionsabgeordnete dürfen 23 Minuten sprechen, Liberale neun, Sozialdemokraten 14, Linke und Grüne je sieben.
Lammert handelt gegen Usancen
Welche Abgeordneten dieses Zeitbudget nutzen können, legen die parlamentarischen Geschäftsführer der jeweiligen Fraktion fest. Der Bundestagspräsident und seine Stellvertreter bekommen fertige Rednerlisten, die sie nur noch abzuarbeiten haben. Das war's. Zumindest bis jetzt.
Denn Lammert hält sich nicht mehr an diese Usancen. In den Debatten über den Euro-Rettungsfonds EFSF und das zweite Rettungspaket für Griechenland erteilte er den Abweichlern Klaus-Peter Willsch (CDU) und Frank Schäffler (FDP) das Wort, obwohl die Geschäftsführer die beiden nicht auf die Liste gesetzt hatten.
Lammert befand aber, dass sich die kontroverse öffentliche Debatte auch im Parlament widerspiegeln müsse. Die Fraktionschefs tobten. "Wenn alle reden, die eine von der Fraktion abweichende Meinung haben, bricht das System zusammen", schimpfte selbst Volker Kauder, immerhin ein Parteifreund Lammerts.
Nun ist die gängige Auswahl der Redner durch die Fraktionen weder im Grundgesetz noch in der Geschäftsordnung des Bundestags geregelt, sie ist lediglich "parlamentarische Übung". Für Lammert war es rechtlich deshalb ein Leichtes, sich darüber hinwegzusetzen. Um dies zu ändern, wollen die Fraktionsspitzen jetzt die Geschäftsordnung ändern.
Der zuständige Bundestagsausschuss hat sich bereits auf einen Entwurf verständigt. Künftig soll Lammert nur noch "im Benehmen mit der jeweiligen Fraktion" weiteren Rednern das Wort erteilen dürfen. Zudem sollen deren Beiträge "in der Regel" auf drei Minuten beschränkt werden. Lammert hatte Willsch und Schäfer bei der Euro-Abstimmung je fünf Minuten reden lassen.
Außerdem soll in der neuen Geschäftsordnung das Recht der Abgeordneten auf eine "Erklärung zur Abstimmung" beschränkt werden. Bisher kann jeder Parlamentarier nach der eigentlichen Debatte bis zu fünf Minuten ans Pult, um eine Stellungnahme abzugeben - ein wichtiges Minderheitenrecht.
Künftig sollen die Abgeordneten ihre Erklärungen schriftlich zu Protokoll geben. Nur noch ausnahmsweise soll Lammert mündliche Einlassungen zulassen dürfen, diese dürfen dann höchstens drei Minuten dauern.
Fraktionen - im Grundgesetz nicht vorhanden
Lammert wollte sich am Donnerstag zu all dem nicht öffentlich äußern, auch weil seine Position lange klar ist: Fraktionen kämen im Grundgesetz nicht vor, findet Lammert, deshalb könnten sie den Bundestagspräsidenten auch nicht bei der Erteilung des Wortes an Abgeordnete beschränken.
Außerdem verlangt es sein Demokratieverständnis, dass auch Minderheiten ausreichend zur Geltung kommen. Debatten sollen nicht zum Ritual verkommen, sondern tatsächlich bei der Entscheidungsfindung helfen.
Für Lammert sind das Prinzipien, für die Fraktionschefs ist es Prinzipienreiterei. Sie fürchten um die Arbeitsfähigkeit des Parlaments und die Gerechtigkeit im Plenarsaal. Schließlich durften Willsch und Schäffler fast so lange sprechen wie die offiziellen Redner von Grünen und Linken. Doch den Bundestagspräsidenten ficht das nicht an. Er hat die Mitglieder des Geschäftsordnungsausschusses bereits wissen lassen, dass er die geplanten Änderungen nicht hinnehmen will.