Russland:Alles Putin oder was

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Im Land von "Super-Putin". Besucher vor einem Wandgemälde in der gleichnamigen Ausstellung 2017. (Foto: Yuri Kadobnov/AFP)
  • Masha Gessen erklärt elegant und thesenstark, warum die Demokratie in Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion scheiterte.
  • Die Journalistin und Schriftstellerin analysiert auch, wie der heutige Herrscher Wladimir Putin an die Macht kam.

Rezension von Franziska Davies

Masha Gessen, eine der scharfsinnigsten Beobachterinnen sowohl von Trumps Amerika als auch Putins Russland, erzählt in ihrem neuen Buch "wie Russland die Freiheit gewann und verlor" (so der Untertitel der deutschen Übersetzung) und wählt dafür einen eleganten wie eingängigen Weg.

Im Mittelpunkt stehen die Lebenswege von vier Menschen, die den Lesern schlicht als Shanna, Mascha, Serjoscha und Ljoscha vorgestellt werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie alle zu jener Generation zählen, in deren Lebensspanne sich der Prozess des Gewinns und Verlusts der Freiheit vollzog: Geboren in den Achtzigerjahren, Kinder zur Zeit der Perestroika und des Zusammenbruchs der Sowjetunion im Jahr 1991, Teenager in den Jahren des postkommunistischen Umbruchs und schließlich als junge Erwachsene Zeugen und Zeuginnen des Aufstiegs Wladimir Putins und der zunehmenden Radikalisierung seines Regimes sowie des Kriegs gegen die Ukraine.

In diesem Ansatz könnte man eine Parallele erkennen zur belarussischen Nobelpreisträgerin für Literatur, Swetlana Alexijewitsch, die in ihren Büchern ebenfalls die russischen Traumata des 20. Jahrhunderts durch die Lebensgeschichten ihrer Gesprächspartner greifbar macht.

Aber Gessen beschränkt sich nicht darauf, die Biografien und Reflexionen ihrer Protagonistinnen und Protagonisten für sich stehen zu lassen. Ihr geht es auch um eine abstraktere Analyse der Ursachen für das Scheitern der Demokratie in Russland in den 1990er-Jahren und um die Frage, mit welchen Begriffen sich das Land heute fassen lässt. Diese beiden Ebenen verbindet sie geschickt miteinander.

Zum einen handelt es sich bei einigen ihrer Figuren um Menschen, die durch ihren familiären Hintergrund einen unmittelbaren Zugang zu Schlüsselfiguren der Perestroika und des postkommunistischen Russlands hatten. Dazu zählt etwa Shanna Nemzowa, Tochter des 2015 ermordeten Oppositionspolitikers Boris Nemzow, der in den 1990er Jahren ein Shooting Star der Reformer war.

Zum anderen aber lässt Gessen auch Personen zu Wort kommen, die aus ihrer Sicht das intellektuelle Werkzeug besitzen, um sowohl das eigene Leben als auch die russische Gesellschaft analytisch zu durchdringen. So treten zusätzlich zu den vier Hauptfiguren - die Parallelen zu einem Roman sind gewollt - auch Wissenschaftler wie der berühmte Soziologe Lew Gudkow auf oder die Psychoanalytikerin Marina Arutjunjan.

Auf dieser Grundlage gelangt Gessen zu dem Schluss, dass sich inzwischen in Russland wieder ein politisches Modell durchsetzen konnte, das sich am ehesten als Totalitarismus bezeichnen lasse. Diese These wird im englischen Original schon im Titel verdeutlicht: "How Totalitarianism reclaimed Russia". Dass sich dagegen vieles einwenden lässt, ist Gessen bewusst.

Als Hannah Arendt in den 1950er-Jahren in ihrer Studie "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" den Begriff des Totalitarismus entscheidend prägte, hatte sie das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion vor Augen - mithin Systeme, die hinsichtlich der Dimensionen von Terror und Gewalt das heutige Russland bei Weitem übertreffen.

Masha Gessen: Die Zukunft ist Geschichte – Wie Russland die Freiheit gewann und verlor. Aus dem Englischen von Anselm Bühling. Suhrkamp, Berlin 2018. 639 Seiten, 26 Euro. E-Book: 21,99 Euro (Foto: Suhrkamp)

Das Erkenntnispotenzial eines so weit gefassten Totalitarismusbegriffs ist dann allerdings gering. "Totalitarismus" beschriebe dann sowohl Systeme, denen die Massenvernichtung von Menschen inhärent war, als auch das Regime Putins, das man ebenfalls mit guten Argumenten - wie Gessen selbst schreibt - als Kleptokratie oder postkommunistischen Mafiastaat beschreiben könnte.

Aber selbst wenn man ihrer Argumentation insofern folgt, dass sich in Putins Russland Praktiken etabliert haben, die in mancher Hinsicht an totalitäre Gesellschaften erinnern - etwa die Beschwörung der eigenen nationalen Größe, die Gewalt gegen Andersdenkende, die Schaffung von inneren und äußeren Feinden zur Mobilisierung der Gesellschaft - so bleibt die Frage, warum dies gelingen konnte.

Leidgeprüfte Persönlichkeiten im Mittelpunkt

Und hier kommt die Vorstellung eines "Homo Sovieticus" ins Spiel. Gessen ist davon überzeugt, dass entgegen den Prognosen in den frühen 1990er-Jahren dieser Menschentypus nicht ausgestorben ist, sondern sich im Gegenteil als hartnäckig erwies. In dieser Lesart mussten Putin und seine Entourage ein Land, dessen Bevölkerung mehrheitlich ohnehin unfähig zur Freiheit war, nur noch übernehmen.

Der systematische Herrschaftsausbau eines Netzwerks von (Ex-)Geheimdienstleuten und organisierter Kriminalität seit den 1990er-Jahren gerät dabei fast zum Nebenschauplatz. Das ist auch insofern überraschend, als Gessen als eine der Ersten eine hervorragende (auch auf Deutsch erhältliche) Putin-Biografie vorgelegt hat, in der sie genau diese Prozesse minutiös analysiert.

Genügt es vor diesem Hintergrund, auf die empirisch und theoretisch schwer fassbare psychische Verfasstheit einer Gesellschaft zu verweisen, um die Rückkehr totalitärer Ideologien und Praktiken zu erklären? Warum konnte sich dann in der postsowjetischen Ukraine im Vergleich zu Russland ein höheres Maß an Freiheit durchsetzen? Warum entwickelte sich Westdeutschland nach 1945 zu einer Demokratie? Etwa weil die Deutschen psychisch besser darauf vorbereitet waren?

Oder war der entscheidende Unterschied vielmehr, dass in der BRD der demokratische Aufbau mit ökonomischem Wohlstand assoziiert wurde und nicht wie in Russland mit Sicherheitsverlust, individueller Selbstbereicherung und Gewalt?

Gessens Buch regt an, über all diese Fragen nachzudenken und bietet dabei fast nebenbei eine Diskussion zentraler sozial- und geisteswissenschaftlicher Erklärungsmodelle für die Entwicklung Russlands der vergangenen Jahrzehnte. Vor allem aber erzählt ihr Buch eindringlich die Geschichte von vier Menschen. Shanna, Mascha, Ljoscha und Serjoscha sind keine "Sowjetmenschen". Sie sind engagierte und leidgeprüfte Persönlichkeiten, die in Russland keine Zukunft mehr für sich sehen.

Besonders Ljoschas Geschichte wird in Erinnerung bleiben. Nach dem eigenen Coming-out entschließt sich der junge Politologe gegen enorme Widerstände an der eigenen Fakultät, Praktiken gegenüber sexuellen Minderheiten zu untersuchen.

Homosexualität wird in Russland oft gleichgesetzt mit Pädophilie

Als Wissenschaftler und selbst Betroffener beobachtet er, wie die Hetze gegen Homosexuelle - im russischen Diskurs stets gleichgesetzt mit Pädophilie - sich unter Putin zum integralen Bestandteil der nationalen Ideologie entwickelt und schließlich gesetzlich verankert wird.

Ljoscha hält lange durch, bis er schließlich wie andere Homosexuelle um seine eigene Unversehrtheit fürchten muss und das Land verlässt. Meisterhaft verbindet Gessen hier eine Biografie mit der Analyse der Exklusionsmechanismen in der russischen Gesellschaft.

In den vergangenen Jahren haben sich auf bizarre Art sogenannte Russland-Versteher in deutschen Talkshows und der Publizistik profiliert, die sich dann aber häufig als bemerkenswert schlecht informierte Verteidiger des russischen Präsidenten entpuppt haben.

Nicht zuletzt ihnen sei dieses Buch, das im März mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2019 ausgezeichnet werden wird, empfohlen. In Mascha Gessen haben wir es mit einer Intellektuellen zu tun, die - diesmal im besten Sinne des Wortes - eine Russland-Versteherin ist und noch dazu eine begnadete Autorin.

Franziska Davies arbeitet als Osteuropa-Historikerin an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt die Geschichte Russlands im 19. und 20. Jahrhundert.

© SZ vom 10.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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