Einerseits gleicht der Fall, der am Donnerstag vor dem Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg verhandelt wurde, Hunderten Fällen hier im Jahr: Eine Frau hatte ihren Arbeitgeber erfolgreich auf ein höheres Entgelt verklagt. Der aber sträubt sich und ist in die Berufung gegangen. Alltag am Arbeitsgericht. Andererseits aber hat die Geschichte der Bulgarin Dobrina D. das Zeug dazu, eine ganze Branche aufzurütteln. So wurde der Prozess auch kurzfristig in den größeren Saal 334 verlegt, Journalisten waren da und Vertreter vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
Frau D. war im Juni 2013 als "24-Stunden-Pflegerin" nach Deutschland gekommen. Fast drei Jahre betreute sie eine über Neunzigjährige in deren Wohnung. Vermittelt worden war sie über eine Agentur mit Hauptsitz in München, angestellt jedoch bei einer Firma in Bulgarien. Der zweite Arbeitsvertrag, den sie im April 2015 abschloss, sah eine Arbeitszeit von 30 Stunden vor, dafür erhielt sie netto knapp 1000 Euro monatlich, Überstunden waren ausgeschlossen, am Wochenende sollte Frau D. frei haben. Nur, dass die alte Dame ständig auf Unterstützung angewiesen war. "Und dann soll sich die Klägerin abgrenzen gegen die Dame und sie zurückweisen?", hinterfragt die Vorsitzende Richterin Oda Hinrichs dieses Vertragskonstrukt. "Die Kammer sieht sich vor die Situation gestellt, dass hier jede Menge widersprüchliche Aussagen vorliegen."
Frau D., inzwischen zurück in Bulgarien und in Rente, verlangt, dass ihr die gesamten 24-Stunden-Tage in der Woche vergütet werden. Allein für 2015 macht das 45 000 Euro aus, abzüglich des bereits gezahlten Lohns von 6700 Euro. Einen ersten Prozess gewann sie mit Hilfe des DGB vor dem Arbeitsgericht Berlin. "Es wird sich zeigen, dass diese Frauen ausgebeutet werden", hofft Justyna Oblacewicz vom DGB Projekt Faire Mobilität von dem Verfahren. Zwar ist der Fall von Frau D. ein besonderer, denn die meisten 24-Stunden-Pflegerinnen kommen aus Polen und arbeiten häufig nicht mit einem Arbeitsvertrag, sondern als Selbständige. Was aber nicht heißt, dass sie besser vergütet würden. Genaue Angaben über die Zahl der 24-Stunden-Pflegerinnen in Deutschland aus Osteuropa gibt es nicht. Die Schätzungen reichen von einigen Hunderttausend bis zu einer halben Million. Doch vor Gericht traue sich kaum eine der Betroffenen, weiß Oblacewicz. "Wenn ich da jetzt wage zu klagen, bekomme ich keine Anstellung mehr", sei die Haltung. "Das Verfahren kann Auswirkungen auf die ganze Branche haben."
Doch was moralisch stimmig erscheint, kann juristisch sehr kompliziert sein. "Es ist ein Indizienprozess", stellt die Richterin klar. Für eine valides Urteil wäre es deshalb vermutlich notwendig, erst einmal Beweise zu erheben - also die Pflegerin zu befragen, die inzwischen 96-jährige Dame, die Geschäftsführung der Firma in Bulgarien und so weiter. Und weil das alles nicht einfach ist, macht Richterin Hinrichs einen Vorschlag für einen Vergleich: Statt der knapp 40 000 bekommt Frau D. 10 000 Euro. Das liege zwar deutlich unter den üblichen Vergleichsangeboten von der Hälfte einer strittigen Summe. Dafür sei der Vergleich aber erst gültig, wenn die Firma auch gezahlt habe. Denn eine Forderung aus einem Urteil aus Deutschland in Bulgarien zu vollstrecken, das könne schwierig werden. Knapp gesagt: lieber 10 000 Euro in der Hand als 40 000 in den Sternen.
Der Anwalt von Frau D. ist nach kurzer Überlegung erst mal einverstanden, der Anwalt der bulgarischen Firma jedoch hat Zweifel, ob seine Mandanten zustimmen werden: "Dieses Urteil würde in der Branche die Runde machen, davon wären dann viel mehr Firmen betroffen." Die Kontrahenten haben nun vier Wochen Zeit einen Vergleich zu finden. Sonst geht der Prozess in die nächste Runde.