Isländische Politiker reden gern mit Ausländern, sie wollen wissen, was die Welt so denkt über ihre kleine Insel. Derzeit bekommt man sie aber kaum zu fassen. Strategietreffen, Debatten, Abstimmungen; sie schwirren hin und her zwischen dem Althing - dem Parlament am zugefrorenen See von Reykjavik -, ihren Büros und diversen Innenstadt-Lokalen. Es herrscht Endspiel-Stimmung. Im April wird ein neues Parlament gewählt, den Abgeordneten bleiben wenige Arbeitstage, um Liegengebliebenes zu erledigen. Darunter ein nicht ganz unwesentliches Vorhaben: die neue Verfassung, die sie billigen müssen.
Die Parlamentarier wissen, dass ein international beachtetes politisches Experiment in ihren Händen liegt, aber es ist durchaus möglich, dass Islands Parteien es in diesen hektischen Tagen scheitern lassen. Eine Mehrheit der Abgeordneten sei für die neue Verfassung, heißt es, der Rest strikt dagegen. Es wird getrickst und intrigiert mit aller Macht. "Wenn der Verfassungsgebungsprozess misslingt, wäre das ein frontaler Angriff auf Islands Demokratie", sagt der Ökonomie-Professor Thorvaldur Gyslason und hat insofern recht, als der Wille des Volkes dann tatsächlich eklatant missachtet worden wäre. Denn es ist sein Text, der Text des Volkes, um den es geht.
Einzigartig ist, wie er zustande kam: Noch nie haben sich die Einwohner eines Landes so selbstbestimmt und transparent, so frei von Parteien-Einfluss und Partikularinteressen neue Regeln des Zusammenlebens geben können. Daher das Interesse im Ausland, wo Island oft als politisches Labor gesehen wird. Obendrein bekräftigten zwei Drittel der Bürger im vergangenen Oktober per Referendum, dass sie genau diesen von ihnen erarbeiteten Text auch wirklich als Basis für eine künftige Verfassung wünschen. Und nun könnte dieser Volkswille in der Maschine der Parteipolitik zu Staub zerrieben werden.
Nach der Finanzkrise blieb der Wille, es besser zu machen
Die neue Verfassung, sie ist auch der Versuch eines neuen Anfangs. Island wurde besonders hart von der Finanzkrise getroffen, kein Land stürzte tiefer. Mit dem luxuriösen Leben, das die Privatisierungswelle und der Boom Anfang des Jahrhunderts den 320.000 Inselbewohnern beschert hatten, war es schlagartig vorbei, als Ende 2008 die drei größten Banken pleitegingen. Es blieben ein Berg von Schulden, Wut auf geldgeile Manager und rücksichtslose Politiker - sowie der Wille, es künftig anders, besser zu machen.
Das neue Grundgesetz sollte ein Schritt auf diesem Weg sein, zumal die alte Verfassung eher als Provisorium gedacht war. Sie ist die leicht angepasste Kopie einer dänischen Verfassung aus dem 19. Jahrhundert, die nach der isländischen Unabhängigkeit 1944 übernommen und seither trotz mehrerer Versuche kaum renoviert wurde.
Eine Gruppe von Bürgern brachte daher einen Prozess in Gang, unterstützt von der Regierung aus Links-Grünen und Sozialdemokraten, die im Frühjahr 2009 an die Macht gekommen war und noch immer amtiert. Knapp tausend zufällig ausgewählte Isländer äußerten Wünsche, lieferten Ideen. Im November 2010 wurde aus 523 Kandidaten ein Bürgergremium aus 25 Personen gewählt. Zwar erhob der Oberste Gerichtshof auf Antrag der alten konservativen Eliten Einspruch, doch umging das Parlament das Urteil, indem es die 25 zum Verfassungsrat erklärte. Innerhalb von nur knapp vier Monaten schrieben die Männer und Frauen - begleitet von den Bürgern via Facebook, Youtube, Twitter und anderen Websites - einen Text zusammen.
Der enthält nach Ansicht der Venedig-Kommission des Europarates ein paar Unstimmigkeiten, wird insgesamt aber von führenden Verfassungsrechtlern gelobt. Er gibt dem Parlament mehr Macht, stärkt Menschen- und Bürgerrechte - etwa die Informationsfreiheit -, ermöglicht mehr direkte demokratische Teilhabe und trägt einem großen Wunsch der Isländer Rechnung: ihre natürlichen Ressourcen zu schützen.