Vier ehemalige Sicherungsverwahrte bekommen Schmerzensgeld vom Staat für zu lange Haftzeiten. Das Landgericht Karlsruhe sprach den zwischen 55 und 65 Jahre alten Klägern insgesamt 240.000 Euro Entschädigung zu. Zahlen muss laut Urteil das Land Baden-Württemberg, aber auch der Bund könnte für Entschädigungen in die Pflicht genommen werden.
Das Urteil in erster Instanz könnte die Richtung für Dutzende ähnlicher Fälle auch in anderen Bundesländern weisen. Genaue Zahlen dazu gibt es nach Angaben aus dem baden-württembergischen Justizministerium aber nicht. Die vier Männer hatten insgesamt rund 400.000 Euro gefordert. "Wir werden das Urteil prüfen und gegebenenfalls Berufung einlegen", sagte Oberstaatsanwalt Jürgen Gremmelmaier von der Generalstaatsanwaltschaft in einer ersten Stellungnahme.
Die vier verurteilten Gewalt- und Sexualstraftäter bekamen jeweils 49.000 Euro bis 73.000 Euro zugesprochen. Für die Bemessung der Summe hatte sich Richter Eberhard Lang an den Maßstäben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientiert ( AZ: 2 O 278/11 u.a.). Dieser hatte die rückwirkende Sicherungsverwahrung Ende 2009 für rechtswidrig erklärt und Schadensersatz in Höhe von rund 500 Euro pro Monat für angemessen erachtet.
Die Kläger verbüßten unter anderem wegen Vergewaltigung und versuchten Mordes lange Haftstrafen und saßen danach die damals maximal zehnjährige Sicherungsverwahrung ab. Kurz bevor diese ablief, hatte ein Gesetz 1998 der SPD-Regierung Schröder in Deutschland die unbefristete Sicherungsverwahrung ermöglicht. Statt entlassen zu werden, blieben die Männer weitere acht bis zwölf Jahre in Haft.
Eine solche rückwirkende Sicherungsverwahrung erklärte der EGMR grundsätzlich für rechtswidrig. Das Bundesverfassungsgericht folgte dieser Auffassung kurz darauf und revidierte damit ein früheres Urteil.
Das Land Baden-Württemberg trifft nach Ansicht des Karlsruher Landgerichts aber keine Schuld. Dem Land und der Justiz könne kein Vorwurf gemacht werden, betonte Richter Lang in der Urteilsbegründung. "Wir hätten gar nicht anders handeln können", erklärte auch Oberstaatsanwalt Gremmelmaier. Die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung sei damals geltendes Recht gewesen - was zunächst auch das Bundesverfassungsgericht abgesegnet hatte.
Mit dem Urteil erhalten die Männer gut die Hälfte der ursprünglich geforderten Summe. Der Anwalt dreier Kläger hatte für seine Mandanten 25 Euro pro Tag der zusätzlichen Haft gefordert, der Anwalt des vierten 35 Euro pro Tag. Verteidiger Ekkehard Kiesswetter hatte schon vor der Urteilsverkündung signalisiert, ein Urteil zu akzeptieren, das sich an den finanziellen Vorgaben des EMGR orientiert. "Meine Mandanten sind nicht mehr jung. Für sie zählt jeder Tag."
Mit dem Verfahren war erstmals in Deutschland die Frage geprüft worden, ob und wieviel Schadenersatz Straftätern zusteht, die nach ihrer verbüßten Haftstrafe zu lange in Sicherungsverwahrung waren. Experten erwarten, dass die Frage wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung bis zum Bundesgerichtshof (BGH) verhandelt wird. Bis zu einer solchen BGH-Grundsatzentscheidung könnten nach Einschätzung Kieswetters noch ein bis zwei Jahre ins Land gehen.
Das Urteil hat Pilotcharakter: Der Rechtswissenschaftler Thomas Ullenbruch, hauptberuflich Strafrichter am Amtsgericht Emmendingen, beschrieb das Verfahren im Vorfeld als "heikel". Nach seiner Einschätzung gibt es mehr als einhundert vergleichbare Fälle.