Österreich: Ex-Kanzler Gusenbauer:Ein Mann will nach unten

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Alfred Gusenbauer war bis vor einem halben Jahr Bundeskanzler in Wien. Jetzt spricht er davon, wie schön es ist, wieder Gewerkschaftsreferent in Niederösterreich zu sein.

Roman Deininger

Der hübsche Stadtplatz von Gmünd schläft um halb neun in der Früh, wahrscheinlich tut er das den ganzen Tag. Drei feine ältere Damen stehen vor der Terrasse des Hotels Goldener Stern und glucksen vor Verzückung. So was kann passieren, wenn plötzlich ein Herr Bundeskanzler in der Gmünder Morgensonne sitzt und ein Frühstücksgurkerl zum Munde führt. Die Etikette ist für jetzt vergessen, und eine der Damen stellt ungeniert die Frage dieses strahlenden Frühsommertages: "Wie kommt der denn hierher?"

Bis vor kurzem noch Kanzler: Der 49-jährige Politiker Alfred Gusenbauer (Foto: Foto: Reuters)

Wie kommt ein ehemaliger Kanzler der Republik Österreich, der eben noch im Élysée-Palast seinen Freund Sarko herzte und vielleicht auch dessen Frau, wie kommt so einer, erst 49 Jahre alt, ins Waldviertel, um in dunklen Turnhallen und stickigen Gemeindesälen Nachhilfe zu geben in Sachen Europa? Oder anders: Warum geht der eine Ex-Kanzler zu Gazprom, der andere zur Arbeiterkammer Niederösterreich? Zurück an den Schreibtisch eines Referenten, den er vor zehn Jahren hinter sich gelassen hatte, weil er nach oben wollte, ganz nach oben.

Seit Weihnachten 2008 ist Alfred Gusenbauer wieder ziemlich weit unten, zuständig für Europafragen, die bei den Arbeitnehmern im flachen Land vor Wien aufkommen könnten. Für 4000 Euro brutto versichert er Schülern und Betriebsräten, dass die EU keineswegs plane, Zubereitung und Verzehr von Tafelspitz unter Strafe zu stellen. Unwürdig sei dieser Posten, raunt empört das Land, dasselbe, das Gusenbauer nach nicht einmal zwei Jahren aus dem Amt gejagt hatte. Er sagt, er schätze seine "neue Freiheit", auf die er hätte verzichten müssen in einer lukrativen "Managementfunktion". Ansonsten sagt er zu all dem nicht viel. Aber ein Tag mit ihm im Waldviertel sagt auch etwas.

Der ungeliebte Emporkömmling

Gusenbauer ist ein Sportler. Vor dem Frühstück war er joggen, eineinhalb Stunden. Man kann sich sein politisches Schicksal vorstellen wie das eines Läufers, der dachte, er laufe einen Marathon, und dem man nach den ersten Kilometern mitteilte, für ihn sei das Rennen vorbei.

Wer dieses Ende nachfühlen will, muss zurück an den Start, zum 1. Oktober 2006, dem Tag der Nationalratswahl. Die Sozialdemokraten hatten nicht geglaubt, dass sie gewinnen könnten. Vor allem hatten sie nicht geglaubt, dass er gewinnen könnte. Er, der ungeliebte Emporkömmling, der Sohn eines Bauarbeiters und einer Putzfrau aus Ybbs, von dem man immer gesagt hatte, die nächste Stufe sei für ihn die letzte - bis auf einmal keine nächste Stufe mehr da war. Als Gusenbauer bei der Wahlparty einzog, spielte der DJ "Nothing's gonna stop us now". Er würde Kanzler sein, so wie er es vorausgesagt hatte mit 14 Jahren im Hof seines Gemeindebaus. Die Menge schrie "Gusi, Gusi", früher war das Spott. Jetzt war es Dankbarkeit. Großen Siegen aber hafte ein Problem an, sagt Gusenbauer heute: "Überzogene Erwartungen."

Lesen Sie auf der nächsten Seite, mit welchen Fragen sich der Ex-Kanzler nun beschäftigt.

Die Turnhalle der Handelsakademie Gmünd, lüften wäre keine schlechte Idee. Gusenbauers Schuhe quietschen auf dem grünen Gummiboden. Alexander aus der ersten Reihe, 16 Jahre alt vielleicht, ist ihm gerade mit der EU-Richtlinie zur Bananenkrümmung gekommen. Es gehe da um Gurken, sagt Gusenbauer mit einem Enthusiasmus, als dürfte er die Sache zum ersten Mal aufklären. Die Bananen kämen immer, sagt Gusenbauer, und Alexander hat noch nicht aufgegeben: In Brüssel, mutmaßt er, seien "alle völlig wahnsinnig". Gusenbauer findet, das stimme eher nicht. Nach einer Viertelstunde mit Alexander fragt man sich, wo er die Geduld herhat.

Das also ist des Kanzlers neues Leben, er sagt, er sei glücklich damit: "Man muss nicht old sein, um ein elder statesman zu sein." Gusenbauer war Kanzler von Januar 2007 bis Dezember 2008, Rekord in der Kategorie kürzeste Amtszeit. Die Geschichtsbücher werden das ein Zwischenspiel nennen, und wahrscheinlich ein Scheitern. Natürlich hätte er gern länger regiert, sagt Gusenbauer, länger "gestalten dürfen".

Er sagt aber nichts, rein gar nichts, was nach Bedauern klingt, nach Schmerz oder Bitterkeit: "Ich hatte doch meine Zeit." Und er sagt auch nichts zur aktuellen Innenpolitik, oder doch, einen Satz: "Die neue Regierung wird einige Zeit brauchen, um die von mir begonnenen Reformen umzusetzen." Das ist ein emotionaler Ausbruch bei ihm.

Waidhofen an der Thaya, Pensionisten-Treff im Bürgersaal. Man habe ein Problem mit der Klimatisierung, gesteht der Gastgeber dem Altkanzler und streicht sich Schweißtropfen von der Stirn, "im Winter ist es zu kalt, im Sommer ist es zu heiß". Hauptsache, im Jahresschnitt passe es, sagt Gusenbauer. Die Pensionisten lieben ihren Gusi, alle lieben ihn an diesem Tag. Man fragt sich, wer ihn überhaupt loswerden wollte. Ein Herr mit Schnauzbart schiebt sein Schweinsbratl zur Seite, um mit der Faust auf den Tisch hauen zu können. "Meuchelmord", ruft er, "die eigenen Leute", eine "heilige Wut" müsse der "Alfred" haben, "tief drinnen". Beim Gehen sagt Gusenbauer, da sei nichts: "Books are closed."

Wenn man liest, was über den Kanzler Gusenbauer gesagt und geschrieben wurde, will man dem Herrn mit dem Schnauzbart recht geben: Da muss was sein. Österreich hat ihn als zynisch und arrogant beschimpft, hat sich über seine Belesenheit mokiert, über seine kulinarischen Vorlieben und sogar über seine linke Augenbraue, eine sehr buschige Augenbraue, die angeblich immer steil nach oben schoss, wenn ihr Besitzer die Dummheit seiner Umgebung nicht fassen konnte, also eigentlich dauernd. "Meine Güte", sagt Gusenbauer, "man darf sich doch in der Politik keine Gerechtigkeit erwarten."

Überzogene Erwartungen

Gusenbauer gibt niemandem die Schuld, auch sich selbst nicht. Er redet höchstens von den "überzogenen Erwartungen" nach dem Triumph. Von überzogenen Wahlversprechen redet er nicht. Als ihm die ÖVP die große Koalition kündigte, kündigte ihm seine Partei das Vertrauen. Bei der Neuwahl musste er auf die Spitzenkandidatur verzichten. Manche sagen, er sei zurück zur Arbeiterkammer, weil er wieder bei seinen Leuten in Niederösterreich sein wollte. Hier ist er nicht der Tölpel, der Umfaller, hier ist er "Dr. Gusi", ein Philosophenkönig nah beim Volk.

Andere sagen, er sei zurückgegangen, weil er auf das Große im Kleinen spekuliert habe, auf einen anderen Europa-Job, auf den Posten des österreichischen EU-Kommissars, der im Herbst neu zu besetzen ist. Er habe das "nicht verfolgt", sagt er, doch wenn er diese Hoffnung gehabt haben sollte - nun muss er sie fahren lassen. Die ÖVP war stärkste Kraft bei der Europawahl, sie wird den Kommissar stellen wollen. Gusenbauers Partei hatte schon vorher klargemacht, dass sie nicht für ihn kämpfen werde, wieder nicht.

Landesberufsschule Schrems, die letzte Station des Tages. Die Direktorin steht vor einer großen roten Farbfläche und erläutert, dass die Schüler sich hier einem wichtigen Thema "künstlerisch genähert" hätten, der "Büroorganisation". Am Vormittag hätte Gusenbauer noch gesagt, dass er dieses Thema selten so trefflich dargestellt gesehen habe. "Ach ja", sagt er jetzt, und seine linke Augenbraue springt, ganz leicht nur, nach oben.

Alfred Gusenbauer wird seine Tätigkeit für die Arbeiterkammer bald beenden. Er geht als Berater zur deutschen Mediengruppe WAZ, er soll den "Türöffner" geben in Osteuropa. "Sehr spannende Sache", sagt er. Vielleicht, auf jeden Fall besser bezahlt. Aber noch weit entfernt von der Erhabenheit der Macht, vom Glanz der großen Politik. Gusenbauer sagt, all das fehle ihm nicht. "Überhaupt nicht."

In der schummerigen Aula der Berufsschule lesen Schüler Fragen von Pappkärtchen ab: "Gibt es ein Erlebnis, das Sie ganz besonders bewegt hat in Ihrer Amtszeit?" Er redet von "Dienst" und "Verantwortung", und dass dabei "naturgemäß" wenig bewegend sei. Aber dann sagt er, es sei in Lissabon gewesen, Ende 2007, bei der Besiegelung des EU-Vertrags. Auf einer Steintafel seien damals die Namen aller Unterzeichner eingraviert worden, und irgendwo stehe also auch sein Name. Und das sei schon was, "wenn da etwas in Stein gemeißelt ist, wenn du weißt, da gibt es etwas von dir, das bleibt". Es ist ganz still im Saal. Gusenbauer sagt, er habe offenbar alle Fragen beantwortet.

© SZ vom 01.07.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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