NSU-Prozess:"Ich habe Ihnen mehrmals gesagt, der Agent hat meinen Sohn ermordet"

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Wie kann es sein, dass ein beim Mord anwesender Mann vom Verfassungsschutz nichts mitbekommen haben will? Ayshe und Ismail Yozgat, hier in Wiesbaden Ende November, machen den Behörden schwere Vorwürfe. (Foto: Frank Rumpenhorst/dpa)
  • Im NSU-Prozess halten die Eltern von Halit Yozgat ein verzweifeltes, tränenreiches Plädoyer.
  • Er war 2006 mit 21 Jahren in einem Internetcafé in Kassel ermordet worden.
  • Vor Gericht gibt Ismail Yozgat einem V-Mann, der zur Tatzeit vor Ort war, die Schuld an der Tat - und wirft dem Gericht Ergebnislosigkeit vor.

Von Annette Ramelsberger, München

Die Eltern sind noch einmal gekommen. Sie wollen das Letzte tun, was sie für ihren ermordeten Sohn noch tun können. Für Halit Yozgat, der mit nur 21 Jahren in den Armen seines Vaters starb. Erschossen von den Mördern des rechtsradikalen Nationalsozialistischen Untergrunds NSU. Die Eltern sagen dem Gericht, wie viel Hoffnung sie in das Urteil setzen. Oder besser: Wie viel sie sich einmal davon erhofft hatten. Das Feuer der Hoffnung ist nach 395 Verhandlungstagen im NSU-Prozess in sich zusammengesunken, es glimmt nur noch schwach.

Ayshe und Ismail Yozgat stehen da, sie im Seidenkopftuch, er im schwarzen Anzug, beide gramgebeugt. Und sie sagen etwas, was vor ihnen viele Anwälte der Nebenklage zu formulieren versuchten. Aus dem Mund der Eltern kommt das Fazit von viereinhalb Jahren Prozess ohne alle juristische Formeln, ohne Bremse, mit voller Wucht. "Sehr geehrte Ältere und Vorsitzende des Gerichts, Sie waren meine letzte Hoffnung, mein Vertrauen." Ayshe Yozgat nimmt das Gericht fest in den Blick. Dann hebt sie an. "Sie haben wie Bienen gearbeitet, aber keinen Honig produziert. Es gibt kein Ergebnis."

NSU-Prozess, Neue Recherchen zum NSU-Mordfall Halit Yozgat (Video: Forensic Architecture 2017)

Der V-Mann chattete während des Mordes in einem Flirtforum

Zumindest kein Ergebnis, das die Eltern überzeugt. Dass diese Frau da drüben schuld sein soll, so wie das die Bundesanwaltschaft sieht; die Angeklagte Beate Zschäpe, die ihnen gegenüber sitzt, und ihre zwei Freunde, das reicht den Eltern nicht. Vor allem dem Vater von Halit Yozgat brennt etwas in der Seele, das ihn nicht loslässt und das auch nur schwer zu erklären ist: Als sein Sohn in seinem kleinen Internetcafé in Kassel ermordet wurde, saß der hessische Verfassungsschützer Andreas Temme dort an einem der Computer. Er chattete in einem Flirtforum und sagte später, er habe nichts von dem Mord mitbekommen. Das hatte ihm die hessische Polizei nicht geglaubt und ihn als Mordverdächtigen geführt.

Doch es gab keine Hinweise darauf, dass Temme in Verbindung zum NSU stand oder dass er etwas mit dem Mord zu tun hat. Er selbst hat gesagt, er habe sich nicht als Zeuge gemeldet, weil er sich vor seiner hochschwangeren Frau schämte und sich auch beruflich nicht in dem Café aufhalten durfte. Und er beteuerte immer wieder: Er habe die Tat nicht mitbekommen. Die fünf Richter des Staatsschutzsenats haben ihm das geglaubt - womöglich als Einzige im Saal. Die Richter haben im Sommer 2016 geradezu eine Ehrenerklärung für Temme abgegeben. Wer einmal das winzige, enge Café gesehen hat, der kann sich aber kaum vorstellen, dass ein 1,90 Meter großer Mann wie Temme nicht sieht, dass dort hinterm Tresen ein Mensch liegt.

Das ist es, was den Vater umtreibt: "Es sollte eine Ortsbesichtigung unter der Bedingung meiner Teilnahme im Internetladen stattfinden, wo mein Sohn ermordet wurde. Ich habe Ihnen mehrmals gesagt, der Agent Temme hat meinen Sohn ermordet. Oder er hat den Täter arrangiert. Da sind zwei Schuldige, der eine ist Temme, der andere der Innenminister Bouffier. Die beiden vervollständigen sich gegenseitig." Das Gericht hört stoisch zu.

"Es wird der Tag kommen, wo Allah alles aufklären wird", sagt Ayshe Yozgat

Der heutige hessische Ministerpräsident Volker Bouffier war damals, 2006, Innenminister. Und er ließ nicht zu, dass die Polizei die V-Leute befragte, mit denen der verdächtige Verfassungsschützer Temme kurz vor der Tat telefoniert hatte. "Wir wissen bis heute nicht, warum Halit Yozgat ermordet wurde. Wieso kamen die Täter auf sein Internetcafé? Die Geheimnistuerei um windige V-Leute ist wichtiger als eine Mordermittlung", sagt Yozgats Anwältin Doris Dierbach. "Der Einsatz von V-Leuten ist ein Pakt mit den Teufel. Der Staat wirbt zwielichtige Figuren an, die am laufenden Band Straftaten begehen." Sie wirft der Bundesanwaltschaft vor, den Verfassungsschutz geschont zu haben. Ismail Yozgat hat dem Innenminister damals einen Brief geschrieben: dass er sich gerne mit ihm zum Gespräch treffen wolle. Bouffier lehnte ab. "Die Entscheidung überlasse ich Ihnen, dem ganzen deutschen Volk", ruft Yozgat. Dann bricht ihm die Stimme. Er weint. Dem Gericht sagt er immer wieder, er fordere eine Ortsbesichtigung: Andernfalls werde er "kein Urteil anerkennen." Das Gericht hat sich nie auf den Weg nach Kassel gemacht. Es hielt das nicht für nötig.

Ayshe Yozgat und die beiden Töchter tätscheln ihm den Arm. Dann gehen sie wieder, fahren heim nach Kassel. Ayshe Yozgat hat Beate Zschäpe sehr eindringlich angesehen. Dann sagte sie: "Es wird der Tag kommen, wo Allah alles aufklären wird."

© SZ vom 07.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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