Nordrhein-Westfalen:Die Entmündigung

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Eine Stadt wird unter Kuratel gestellt, ihr Haushalt von einer Landesbeamtin diktiert. In der Gemeinde Herten, einst Bergbau-Herzland, lässt sich mit Händen greifen, wie das Elend in Westdeutschland gärt.

Von Christian Wernicke, Herten

Es ist ein Hoheitsakt im Halbdunkeln. Draußen ist die Sonne untergegangen über dem Ruhrgebiet, drinnen im holzvertäfelten Ratssaal von Herten herrscht eine gespenstische Atmosphäre: Fünf düster dreinblickende Personen haben vor der Stirnwand Platz genommen, einzig die orangenen Turnschuhe von Bürgermeister Fred Toplak, privat ein leidenschaftlicher Langstreckenläufer, leuchten. Um Punkt 17 Uhr beginnt die Sitzung. Aber Fred Toplak, dem Stadtoberhaupt, wird an diesem Tag kein einziges Wort über die Lippen kommen. Die meisten der 44 gewählten Stadtverordneten, die hier sonst an den zwei langen Tischreihen sitzen, hocken oben auf der Empore. Als Zuschauer, zum Schweigen verdammt.

Reden darf an diesem Donnerstag nur Astrid Berlth. Die 34 Jahre alte Frau verkörpert die Staatsmacht - und sorgt nun für das, was das Land Nordrhein-Westfalen für Ordnung hält. Als "Beauftragte der Landesregierung", so klärt die Juristin auf, "ersetze ich heute den Rat der Stadt Herten." Berlth liest vom Blatt, zitiert Paragrafen, nennt Zahlen - und streicht dann der 60 000 Einwohner starken Gemeinde per amtlicher Verkündung fünf Millionen Euro aus der Haushaltsplanung.

Relikt aus goldenen Zeiten: Die Zeche Ewald, die Herten einmal zum ertragreichsten Bergwerksort Europas machte, wurde im Jahr 2000 stillgelegt und ist heute ein Touristen-Informationszentrum. (Foto: Patrik Stollarz/AFP)

Gesagt, gekürzt. Nach nicht einmal vier Minuten ist das Schauspiel vorbei, und die Stadt Herten ist um 5 000 000,00 Euro ärmer. Beim Herausgehen fragt die Lokalreporterin den Bürgermeister kurz, "ob's wehgetan hat". Toplak ringt sich ein Lächeln ab. "Nein, nein", versichert er, "ich bin ja nicht der Verursacher." Später, beim Gespräch in seinem Amtszimmer, wird er schimpfen, "dass das, was hier passiert ist, mit Demokratie nichts zu tun hat."

Denn Herten steht unter Kuratel. Düsseldorf entmündigt die Stadt, allen Sonntagsreden zum Trotz, die Politik "so bürgernah wie möglich zu gestalten" und "die kommunale Selbstverwaltung stärken" zu wollen. Diese Schwüre finden sich zwar im Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Landesregierung, die seit Frühsommer das bevölkerungsreichste Bundesland regiert. Doch NRW-Heimatministerin Ina Scharrenbach bedauert. Sie müsse, so sagt sie der SZ, "die Gesetzesgrundlage umsetzen" und leider nun Vorschriften exekutieren, die "die vorherige rot-grüne Landesregierung eingeführt hat." Scharrenbach räumt ein, es habe "auf beiden Seiten Fehler gegeben", bei Stadt und Land: "Aber wo Menschen arbeiten, passieren Fehler."

Seit vergangenem Jahr Bürgermeister: Fred Toplak. (Foto: oh)

Herten ist ein Einzelfall, einerseits. Die Kommune, mit drei Zechen einst Europas größte Bergbaustadt, hat nach Deutung der Landesregierung gegen den sogenannten "Stärkungspakt" verstoßen. Die frühere Regierung hatte 2012 insgesamt 61 überschuldeten Städten an Rhein und Ruhr 4,5 Milliarden Euro Belohnung versprochen, wenn die dafür im Gegenzug bis 2020 ihre Haushaltsdefizite um zehn Milliarden Euro zusammenstreichen. Der Pakt hat, wenigstens etwas, die kommunale Verarmung gelindert. Doch zugleich ist Herten das Exempel dafür, dass das Elend in Westdeutschland weiter gärt. 27 Jahre nach der Wiedervereinigung "stecken viele Städte in NRW nach wie vor in tiefen Finanzproblemen" bezeugt Helmut Dedy, Geschäftsführer des Städtetags im Land.

Das sieht Fred Toplak, Hertens Bürgermeister, genauso. Seine Wahl im Sommer 2016 war eine kleine Revolution. Mit dem agilen, hageren Mann regiert erstmals ein Parteiloser die Stadt, nach 68 Jahren SPD-Herrschaft. Auch der "NRW-Stärkungspakt", so glaubt Toplak, habe letztlich nur "an den Problemen herumgedoktert". Dass die als Segen gemeinte Hilfe nun für Herten zum Fluch wurde, dafür gibt er dem Land die Schuld: Die zuständige Bezirksregierung habe vorigen Herbst exakt jenen Haushaltssanierungsplan missbilligt, den dieselbe Behörde noch 2012 gebilligt hatte. Fast ein Jahr lang musste Herten allerlei "nicht unaufschiebbaren Ausgaben" auf Eis legen: Die Feuerwehr bekam keine neuen Ruheräume, die Kicker der Spielvereinigung Herten keine Umkleiden, zwei Kinderspielplätze wurden bislang nicht saniert. Auch 2019 und 2020 bleibt es klamm, weil die Landesregierung - per Ukas ihrer Rotstift-Beauftragten Berlth - fünf Millionen Euro strich.

Herten wehrt sich, seine fünf Millionen verlangt Toplak zurück. Er will vor Gericht ziehen und das Land verklagen.

Nur, selbst wenn Herten vor Gericht gewinnt - "das löst nicht die wahren Probleme", sagt Toplak. Eigentlich ist der Bürgermeister ein Optimist, stolz erzählt er, wie der "Revue-Palast Ruhr" die Gemäuer auf Zeche Ewald wiederbelebt. Oder dass auf Ewald jetzt ein Investor den Förderturm und die alte Maschinenhalle saniert, um Auto-Fans in die Stadt zu locken. Zugleich setzen ihm Bund und Land zu: Denn Berlin und Düsseldorf würden wohlfeile Gesetze beschließen - "und wir Kommunen müssen das ausbaden". Die steigenden Ausgaben für die Sozialhilfe, der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz - all das addiert sich. Der Staat verlangt, dass die Eltern knapp ein Fünftel der Kindergartenkostenkosten zahlen. Nur, wie soll Toplak das einer Bevölkerung abverlangen, in der jeder neunte arbeitslos ist? "Wir können noch so viel sparen", sagt sein Kämmerer Matthias Steck, "wir kommen nicht gegen die steigenden Kosten an."

© SZ vom 04.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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