Mit seinem fünften Atomtest hat Nordkoreas Diktator Kim Jong Un am Freitagmorgen gezeigt, wie weit er sich von der Atompolitik seines Vaters und Vorgängers entfernt hat. Kim Jong Il trieb das Nuklearprogramm voran, damit er anderen Mächten in Verhandlungen Zugeständnisse abtrotzen konnte. Dem jungen Kim dagegen geht es um Abschreckung.
Die Atomkraft soll ihm und seiner Clique das Überleben sichern, indem es den Preis für einen Sturz seines Regimes so hoch ansetzt, dass niemand diesen Versuch wagt, weder im Inland noch von außen. Südkorea und die in Pjöngjang gefürchteten USA sollen abgeschreckt werden. Deshalb publiziert Nordkoreas Propaganda Filme, in denen seine Interkontinentalraketen New York zerstören. In Wirklichkeit verfügt es über keine solchen Raketen, heute nicht und sicher auch nicht so bald.
Mit dem Schwenk zog Kim seine Lehre aus dem Sturz anderer Diktatoren, vor allem Muammar al-Gaddafis. Im Jahre 2003 kündigte der Libyer an, er gebe sein geheimes Atomprogramm auf. Acht Jahre später wurde er mit Hilfe der Nato gestürzt. Kim Jong Un meint, mit seinem Terror gegen das eigene Volk und mit Atomwaffen könne er sich dagegen absichern, dass ausländische Mächte möglichen Aufständischen im eigenen Land zu Hilfe eilen würden. Aus seiner Sicht haben Atomwaffen nicht nur das größte Abschreckungspotenzial, sie sind auch billiger als die konventionelle Armee, die Kim verkleinern möchte, um mehr Mittel für die Wirtschaft zu haben. Der Diktator strebt ein eingeigeltes Nordkorea an, das sich selber versorgt.
Damit rückt er vom nationalen Ziel der Wiedervereinigung ab, die auch in Nordkoreas Verfassung verankert ist. Kim versucht, den Status quo möglichst lange hinauszuzögern.
Nordkorea wollte schon 1958 Nuklearwaffen erwerben, nachdem die USA im Süden taktische Atombomben stationiert hatten. Doch Moskau und Peking weigerten sich, Kim Il Sung, den Großvater des heutigen Machthabers, nuklear zu bewaffnen. Mit Hilfe der Sowjetunion begann Kim, ein eigenes Atomprogramm aufzubauen. Südkorea tat das heimlich und gegen den Willen Washingtons zur gleichen Zeit auch.
Raketentechnik aus der Konkursmasse der UdSSR
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion plötzlich auf sich allein gestellt, trieb das Regime in Pjöngjang, obwohl Mitglied des Atomsperrvertrags, diese Forschung energisch voran. Aus der Konkursmasse der UdSSR konnte es sich auch mit Raketentechnik bedienen. Doch 1992 deckte die Internationale Atomagentur IAEA das Waffenprogramm auf. Im sogenannten Genfer Rahmenabkommen verpflichtete sich der Norden 1994, seine atomwaffenrelevante Technik aufzugeben. Dafür sicherten die USA dem Land vertraglich zu, zwei Leichtwasserreaktoren für die Stromproduktion zu liefern.
Doch das Genfer Abkommen war weit mehr, wie der ehemalige Chef der Nordkorea-Abteilung der CIA, Robert Carlin, betont. Es habe Pjöngjang und Washington ein Forum geboten, in dem sie in Ruhe sprechen konnten. Carlin wirft dem früheren US-Vizepräsident Dick Cheney und Ex-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor, sie hätten das Abkommen später gezielt sabotiert und die "Nordkorea-Politik der USA damit in den Abgrund gestoßen".
1994 starb Nordkoreas Gründer Kim Il Sung. Damit ging die Macht auf seinen Sohn Kim Jong Il über, der, anders als der leutselige Alte, als misstrauisch und hinterhältig geschildert wurde. Er erkannte, dass die USA mit einem Atomprogramm zu erpressen waren. Mit einem Wechselspiel von Säbelrasseln und Wohlverhalten wollte er ihnen Respekt und einen Friedensschluss abringen, der zum Abzug der US-Truppen aus dem Süden hätte führen sollen. Dann hätten sich, so seine Vorstellung, die beiden Koreas vereinigen können. Nach dem ersten Atomtest 2006 brachte ihm diese Politik durchaus Erfolge. Bei den Sechs-Parteien-Gesprächen in Peking, an denen auch Südkorea, China, Japan und Russland teilnahmen, lenkte Pjöngjang ein. Es werde keine weiteren Atombomben bauen, zusätzlich zu den sechs, die es besaß. CNN übertrug live die Sprengung des Kühlturms des Forschungsreaktors Yongbyon 2008.
Doch wenige Monate danach erlitt Kim Jong Il einen Hirnschlag. Ohne Weisungen des "lieben Führers" stockte Nordkoreas Politik. Derweil wählte Südkorea den Hardliner Lee Myung Bak zum Präsidenten, der anders als seine Vorgänger kein Interesse am Ausgleich mit dem Norden hatte. Der nahm sein Atomprogramm wieder auf. Kim starb im Dezember 2011. Sein Sohn Kim Jong Un, der brutaler regiert als der Vater, hat drei der fünf nordkoreanischen Atomtests zu verantworten. Nach dem vierten Test Anfang Januar bot er den USA Gespräche an. Aber mit vielen Raketenversuchen und seinem fünften Atomtest, nur acht Monate später, zeigte Kim Jong Un, dass er nicht auf Diplomatie setzt. Anders als sein Vater versucht er gar nicht erst, von Washington, ähnlich wie Pakistan, als kleine De-facto-Atommacht geduldet zu werden. Er weihte nicht einmal Peking in seine Pläne ein, den einzig denkbaren Verbündeten. Eher versucht er, auch China abzuschrecken.