Niederlande nach MH17-Abschuss:Ein traumatisiertes Land

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Der niederländische Minister für Arbeit und Soziales, Lodewijk Asscher, König Willem-Alexander und Königin Máxima sowie Ministerpräsident Mark Rutte (von links nach rechts) nehmen an einer Trauerzeremonie teil. (Foto: AFP)

Einen Volkstrauertag gab es in den Niederlanden zuletzt in den 60er Jahren. Der Schritt der niederländischen Regierung, der Opfer des Fluges MH17 so zu gedenken, war dringend nötig. Denn Ministerpräsident Rutte hat die Wut seiner Landsleute unterschätzt.

Von Thomas Kirchner, Amsterdam

Glocken läuteten, die Züge standen still, die Fahnen hingen auf halbmast. Keine Werbung, keine Spielchen im Radio. Die Niederländer hielten inne und gedachten der Menschen vom Flug MH17, deren sterbliche Überreste nun nach und nach in Särgen in die Heimat geflogen werden. Volkstrauertag in den Niederlanden, das gab es zuletzt 1962, als Königin Wilhelmina starb. Seither hat man es, selbst nach schlimmsten Unglücken mit mehr als hundert toten Landsleuten, stets bei Gedenkveranstaltungen belassen.

Es ist also ein ungewöhnlicher, ja dramatischer Schritt, zu dem sich die Regierung in Den Haag am Dienstag entschlossen hatte. Ein Schritt, der sogar die Königsfamilie überraschte, die nach einem Treffen mit Angehörigen am Montag zurück in den Griechenlandurlaub gejettet war und nun erneut in die Heimat reisen musste.

Zeremonie in Eindhoven
:Niederlande empfangen die Toten von Flug MH17

Flaggen wehen auf halbmast, Glocken läuten, der Rundfunk sendet werbefrei. In Eindhoven sind zwei Flugzeuge mit den ersten Opfern des Fluges MH17 gelandet. Eine Antwort auf die drängendste Frage der Hinterbliebenen gibt es noch immer nicht.

Von Martin Anetzberger

Andererseits: Es war höchste Zeit. Irgendetwas musste Ministerpräsident Mark Rutte tun, irgendein Zeichen setzen, um sich nicht auf Dauer äußerst unbeliebt zu machen bei seinen Bürgern. Die hatten ihn heftig gescholten wegen seiner anfänglich laschen Reaktion auf das "Unglück" in der Ukraine - das Wort Abschuss nimmt er, anders als viele Kollegen, noch immer nicht in den Mund. Seine Strategie: Abwarten und niemandem auf die Füße treten, damit die Rückführung der Leichname nicht gefährdet wird. Und dann die Fakten klären und Schuldige bestrafen. Bloß keine Schnellschüsse. Typisch niederländischer Pragmatismus also.

Wenigstens ein paar starke Worte hätte der Premier finden müssen

Das mag im Prinzip vernünftig gedacht gewesen sein. Der Gesprächsfaden zu den Gegnern sollte in dieser schwierigen Lage nicht ganz abreißen; wer schnell und hart reagiert, macht vielleicht auch Fehler. Dennoch trug Ruttes Eiertanz der Stimmung im Land offensichtlich nicht Rechnung. Die Empörung über die Zustände am Absturzort, die Wut über den mutmaßlichen Drahtzieher im Kreml, sie waren nicht nur in Zeitungen und im Fernsehen zu spüren, sondern vor allem in sozialen Netzwerken. Dort wurde auch sehr offensiv ein nationaler Trauertag gefordert. Ein solcher digital vervielfachter Aufschrei lässt sich heutzutage kaum noch ignorieren.

Was hätte Rutte ansonsten tun sollen? Spezialkräfte in die Ostukraine senden, um das Trümmerfeld zu sichern? Putin beschimpfen, die Wirtschaftsbeziehungen zu Russland kappen? Das lässt sich leicht fordern, wenn man nicht in der Verantwortung steht. Aber wenigstens ein paar passende, starke Worte hätte er finden müssen für sein traumatisiertes Land.

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Doch Rutte, ein nüchterner Liberaler, ist nicht der Typ für so etwas. So war es der sozialdemokratische Außenminister Frans Timmermans, der mit einem beeindruckenden Auftritt in New York für seinen Ministerpräsidenten auftrat. Seine hoch emotionale und gleichzeitig von Vernunft geleitete Rede vor dem UN-Sicherheitsrat hat wohl nichts verändert am Zustand der Welt, aber seine Landsleute tief beeindruckt - und vielleicht ein paar Wunden geschlossen. Nicht alle Politiker müssen so etwas können. Große Politiker können es.

© SZ vom 24.07.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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