Neuer chinesischer Parteichef Xi Jinping:Geschöpf des Kollektivs

Lesezeit: 7 min

Xi Jinping hat bei Bauern gelebt und für Generäle gearbeitet. Als Chef der Kommunistischen Partei ist er der neue starke Mann in China. Seine Richtlinie lautet "Strebe nicht nach Unerreichbarem". Ist die Partei unter ihm fähig zu Reformen? Die vergangenen zehn Jahre waren ernüchternd. Seinem Vorgänger hat der 59-Jährige jedoch zwei Dinge voraus.

Kai Strittmatter, Peking

Die Krönungsmesse ist vorüber, nun müssen sich der Herrscher und sein Rat nur noch dem Volk zeigen. An diesem Donnerstag um 11 Uhr wird sich im Saal des Ostens in der Großen Halle des Volkes eine Tür öffnen, und es wird erscheinen vor den Augen der Welt der neue Ständige Ausschuss des Politbüros der Kommunistischen Partei. Die mächtigsten Männer Chinas marschieren dann ein, exakt in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit.

Und noch bis eine Minute vor elf, bis zu der Sekunde, da die Türe aufschwingt, werden Volk und Reporter gerätselt haben, wer denn nun dazu gehört. Nur wer vorneweg marschiert, das steht schon lange fest: Neuer Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Herr über 1,3 Milliarden Chinesen, einer der mächtigsten Männer der Welt, wird von Donnerstag an Xi Jinping sein.

Machtwechsel wäre ein zu großes Wort. Die Macht bleibt bei der KP, in einem kleinen Kreis von Auserwählten und Parteiälteren, welche die Geschicke des Landes kollektiv bestimmen, die hinter den Kulissen ringen und feilschen. Es ist ein Führungswechsel. Und doch ist die Bedeutung dieses Moments gewaltig. Für die Partei, der es damit erst zum zweiten Mal in ihrer Geschichte gelingt, einen solchen Generationswechsel geordnet zu gestalten. Und für das Land, das ein Wirtschaftswunder hinter sich hat, das aber dringend einschneidender Reformen bedarf, soll seine Entwicklung nachhaltig und stabil verlaufen.

Kritiker auch innerhalb der Partei verweisen auf die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, die Korruption und die Umweltzerstörung, die für soziale Spannungen sorgen. Wenn die KP ihre Kontrolle über Wirtschaft, Justiz und Medien nicht lockere, wenn sie nicht neue Räume öffne für Privatwirtschaft und unabhängige Mechanismen der Überwachung, dann, so prophezeien die Mahner, stehen China schwere Erschütterungen bevor.

Ist die Partei fähig zu Reform? Die vergangenen zehn Jahre waren ernüchternd. "Wir werden nie das politische System des Westens kopieren", schwor der scheidende KP-Chef Hu Jintao auf dem Parteitag noch einmal. Die Herausforderungen, sie sind allen Parteioberen bewusst. Hu selbst mahnte, die Korruption könne den "Kollaps" von Partei und Staat zur Folge haben, und er führte in seiner Rede oft die Worte "Reform" und "Demokratie" im Mund, aber im Kosmos der KP haben diese Wort ihre eigene Bedeutung.

Das schönste Zitat am Mittwoch, dem Tag der Wahl des neuen KP-Zentralkomitees, kam vom Delegierten Song Guofeng, der vor der Großen Halle des Volkes Reportern versicherte, die Abstimmung sei "voll demokratisch", aber natürlich gebe es einen gewissen "Grad der Unausweichlichkeit". Dann fügte er sich in ebendiese, marschierte hinein und gab seine Stimme ab für jenes Zentralkomitee, das die Führung der KP den Abgeordneten zum Abnicken vorgesetzt hatte.

Wird Xi Jinping die Kraft haben, Neues zu wagen? Will er das überhaupt? Auszuschließen ist es nicht, aber der 59-Jährige müsste alle überraschen. Vor allem die, die ihn vor Jahren schon zum neuen Herrscher auserkoren haben. Im Jahr 2000, Xi war gerade Gouverneur der Provinz Fujian geworden, sagte er einmal: "Wenn du ein neues Amt antrittst, dann willst du natürlich deine eigene Agenda im ersten Jahr einführen. Aber das muss auf der Basis deiner Vorgänger geschehen. Es ist wie ein Staffellauf: Du übernimmst den Stab und läufst damit ins Ziel."

Wäre er ein erklärter Erneuerer, er hätte es nie so weit gebracht in dem geschlossenen System. Die Partei hebt die Leute an die Spitze, die sie für die Ihren hält, die Vorsichtigen, die Besitzstandswahrer. Wer in China den Kopf zu weit aus der Menge streckt, der behält ihn nicht lange auf, zuletzt durfte das der gefallene Bo Xilai erfahren, der entmachtete Gouverneur von Chongqing, dessen nicht geringstes Vergehen es war, sich selbst zum populistischen Medienstar aufgebaut zu haben.

Partner politischer Führungspersonen
:Die besseren Hälften der Macht

Das neue Gesicht Chinas war bis vor wenigen Jahren kaum bekannt. Xi Jinping wurde überstrahlt von der Berühmtheit seiner Frau, der Sängerin Peng Liyuan. Kein Einzelfall: Während sich die Partner mancher Staatenlenker bis zur Unsichtbarkeit zurückhalten, drängen andere mit aller Kraft ins Rampenlicht.

Felicitas Kock

Das Bekannteste an Xi ist seine Frau Peng Liyuan, eine Sängerin aus den Künstlertrupps der Armee, ein populärer Propagandastar. Peng trat nicht nur regelmäßig in den Neujahrsshows des Staatsfernsehens auf, die auch schon mal auf eine halbe Milliarde Zuschauer kommen, sie hat es als Sängerin in Uniform bis zum Rang eines Generalmajors gebracht.

Xi Jinping selbst, der Abkömmling eines Kampfgefährten von Mao Zedong, hat sich sein Leben lang bedeckt gehalten, hat Freunde überall gemacht, in der Parteiaristokratie wie in der Armee, unter den Bauern des Hinterlands wie bei den Unternehmern der boomenden Küstenprovinzen. Er hat mal das alte System gepriesen und mal die private Wirtschaft gefördert, er attackiert mal die amerikanische Heuchelei und schickt dann seine Tochter zum Studium nach Harvard. Auch deshalb ist er vielen eine Projektionsfläche für ihre Hoffnungen. Diplomaten beschreiben ihn als zugänglich, allgemein ist die Erleichterung zu spüren, dass da nach zehn Jahren des hölzernen, blassen, unpersönlichen Hu Jintao mal wieder ein richtiger Mensch das Amt ausfüllt.

Xi Jinping hat auch schon Salven abgefeuert gegen die Kritiker Chinas im Westen, so bei einem Besuch in Mexiko, als er gegen die "Ausländer mit den vollen Bäuchen" vom Leder zog, die ständig mit dem Finger auf China zeigten: "Erstens exportiert China keine Revolution. Zweitens exportiert es weder Hunger noch Armut. Drittens macht es euch überhaupt keine Probleme. Was wollt Ihr denn noch?"

Er kann aber auch charmant sein. Die Amerikaner freuten sich, als er während seines Besuchs in den USA Anfang des Jahres - als Vizepräsident Chinas - seine alte Gastfamilie in Muscatine wieder aufsuchte, bei der er als junger Funktionär 1985 zwei Wochen im Kinderzimmer geschlafen hatte, während er die Landwirtschaft von Iowa begutachtete. Die Iren freuten sich einen Monat später, als er beim Gaelic Football den Ball gekonnt über den Platz kickte.

Xi Jinping wirkt auch deshalb selbstsicherer, weil er seinem Vorgänger zwei Dinge voraus hat: Er ist einer der "roten Prinzen", wuchs auf im Zentrum der Macht. Gleichzeitig bescherte ihm das Chaos der Kulturrevolution unfreiwillig ein Leben außerhalb des Apparates, mit all den Lehren, die das mit sich brachte. Sein Vater Xi Zhongxun fiel schon 1962 bei Mao in Ungnade. Xi Jinping selbst war zu jung, um selbst teilzunehmen am Terror der Kulturrevolution gegen die etablierten Kader, doch nicht zu jung, um ihn nicht zu erfahren: Er war 14, als er einem Trupp von Rotgardisten in die Hände fiel, die drohten, ihn seines Vaters wegen hinzurichten.

Mit einem Mal war seine Herkunft kein Privileg mehr, sondern ein schwerer Makel. Als Mao der Jugend befahl, in die Dörfer zu gehen, da landete Xi Jinping für sieben Jahre in einer Lößhöhle in Shaanxi, in der Nähe des Gelben Flusses. Im Land der Gelben Erde. Bitterarmes Bauernland, Wiege der chinesischen Zivilisation. "In diesen sieben Jahren wurde ich erwachsen", sagte Xi vor zwölf Jahren in dem einzigen großen Interview, das von ihm bekannt ist.

Harte Jahre waren das, doch im Nachhinein waren sie auch ein Glücksfall für seine Karriere: Das Leben unter den Bauern, die Mannwerdung im Land der mythischen Gelben Erde - für Xi wurde die Erfahrung zentral in dem Narrativ, das er später von sich verbreitete. "Die Klinge wird am Stein geschärft", sagte Xi. "Wann immer ich später Problemen begegnete, dann dachte ich an die gelbe Erde, und die Probleme wurden kleiner."

Nach dem Ende der Kulturrevolution wurde sein Vater - und mit ihm die privilegierte Stellung der Familie - wieder rehabilitiert. Der Vater besorgte seinem Sohn eine Stelle in der Zentralen Militärkommission in Peking. Xi begann dort, Kontakte zu Chinas Generälen zu knüpfen. 1982 tat er noch einmal einen Sprung raus aufs Land: Er ging als Kader in den Landkreis Zhengding in der Provinz Hebei. Deng Xiaoping hatte gerade seine Politik von Reform und Öffnung verkündet und der junge Xi tat sein Bestes, in dem Landkreis Reformen im Geiste Dengs auszuprobieren.

Auch später, als Gouverneur der Küstenprovinzen Fujian und Zhejiang, konnten Unternehmer und Investoren sich oft auf Xi Jinping verlassen. In Zhejiang griff er McDonald's unter die Arme, als der Fastfood-Riese dort auf Widerstände stieß. Als der Parteisekretär von Shanghai, Chen Liangyu, 2006 dann wegen allzu schamloser Bereicherung abgesetzt wurde, schickte die Partei Xi als Feuerwehrmann in die Stadt.

Als sich die Parteigrößen 2007 auf Xi Jinping als Kronprinzen einigten, kann es aus ihrer Sicht kaum einen idealeren Kandidaten gegeben haben: Er hat gelebt bei Bauern und gearbeitet unter Generälen, er ist geprägt vom armen Hinterland und erfahren in der Führung boomender Küstenlandstriche, und dann ist er noch einer der Ihren, ein Sprössling der alten Garde. Und doch ist es gerade seine Herkunft, die ihm nun zu schaffen machen wird. Korruption und soziale Ungleichheit sind die Bedrohung Nummer eins für die Stabilität des Landes und die Herrschaft der Partei.

Im Juni enthüllte die Nachrichtenagentur Bloomberg, dass Verwandte von Xi Jinping, allen voran die Familie seiner älteren Schwester und die seines Schwagers, Vermögenswerte und Firmenanteile in Höhe von mindestens 376 Millionen Dollar besitzen, außerdem Villen in Hongkong und Immobilien in bester Lage in Peking, wo der Quadratmeter fast 80.000 Yuan (knapp 10.000 Euro) kostet, das ist mehr als doppelt so viel wie das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in China. In dem Artikel hieß es ausdrücklich, man habe keine Hinweise auf verstecktes Vermögen von Xi oder seiner Frau und Tochter selbst gefunden.

In einem von Wikileaks veröffentlichten Telegram aus dem Jahr 2009 wird ein Bekannter Xis mit der Einschätzung zitiert, Xi sei nicht korrupt. Im Gegenteil, heißt es da: Xi sei "abgestoßen von der alles durchdringenden Kommerzialisierung der Gesellschaft mit ihren Neureichen und der Korruption unter den Beamten". Bekannte der Familie Xi streuten zudem nach dem Bloomberg-Artikel eine Anekdote, wonach Xi seine Schwester Qi Qiaoqiao aufgesucht habe und ihr mitgeteilt habe, er werde ihr nicht helfen, sollte sie einmal ins Visier einer Anti-Korruptions-Untersuchung kommen.

Bloß ist Chinas System eben so beschaffen, dass die Verwandten der Mächtigsten nichts zu fürchten brauchen. Chinas Kaderkapitalismus, bei dem der Staat und seine Beamten den Zugriff auf die wichtigsten Teile der Wirtschaft haben, hat sie reich gemacht, und er schützt sie. Auch der scheidende Premier Wen Jiabao, dessen Familie laut New York Times ein Vermögen von 2,7 Milliarden Dollar angehäuft hat, pflegt ein Image als Saubermann. "Haltet Eure Partner, Eure Kinder, Eure Verwandten und Freunde im Zaum", hatte Xi Jinping in einer Rede auf einer Anti-Korruptions-Konferenz 2004 gewarnt. Was soll man von einem System halten, in dem eben dies nicht einmal den Mächtigsten der Mächtigen gelingt?

Und wie soll einer im Interesse des Landes die staatlichen Wirtschaftsgiganten zähmen und aufbrechen, die unselige Monopole halten in allen großen Industriefeldern, wenn diese Monopole von Bekannten und Verwandten und Geschäftspartnern von nahezu allen Familien der Parteispitze geführt und ausgebeutet werden?

Ein Reformer zu sein ist heute fast schwieriger als zu Zeiten Deng Xiaopings: Damals wurde allein um Ideologie gekämpft. Heute ist eine so kleine wie mächtige Schicht von Profiteuren entstanden, die mit Zähnen und Klauen nicht nur ihre Macht, sondern den Zugriff auf fast unerschöpfliche Geldquellen verteidigt. Und zugleich ist Xi kein Deng Xiaoping, kein starker Mann, dem eine nationale Katastrophe wie die Kulturrevolution das Mandat gab, Himmel und Erde auf den Kopf zu stellen. Xi ist ein Geschöpf des Kollektivs, nicht einmal seine Mitstreiter im Ständigen Ausschuss des Politbüros sind ihm verpflichtet.

Befragt nach einer Richtschnur für sein Handeln antwortete Xi Jinping einmal mit dem alten Philosophen Guan: "Versuch nicht das Unmögliche, strebe nicht nach dem Unerreichbaren." Ob das reicht?

© SZ vom 15.11.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: