Gegen die AfD haben die Volksparteien keine Chance: Wenn das "Twitterbarometer" recht hat, ist die neue Partei bei den Nutzern des Internetdienstes doppelt so beliebt wie Union und SPD zusammen. Auf der Homepage twitterbarometer.de versucht der Autor und Blogger Sascha Lobo zu messen, welche Partei bei den Nutzern des Internetdienstes am besten ankommt. Das Twitterbarometer erfasst alle Tweets, die mit einem "+" oder "-" hinter dem Parteinamen Zustimmung oder Ablehnung signalisieren. Nach dieser Zählung liegen die Piraten mit viel Abstand vor der AfD und der SPD. Und keine Partei kommt so schlecht weg wie die Union: CDU und CSU bekommen sehr viel mehr negatives als positives Feedback.
Das Internet als Quelle für die Wahlforschung zu nutzen, versucht auch Oliver Strijbis. Der 33-Jährige ist Politikwissenschaftler an der Universität Hamburg und betreibt auf der Seite politikprognosen.de einen sogenannten Prognosemarkt. Diese Märkte funktionieren wie Börsen: Man kauft ein Los für eine bestimmte Partei und beeinflusst dadurch den Kaufpreis für die anderen Mitspieler. Der Preis für eine Aktie entspricht dem vermuteten Zweitstimmenanteil: 20 Euro bedeuten 20 Prozent bei der Wahl. Mit jeder gekauften Aktie steigt der Kurs, wer verkauft, drückt ihn runter. Dabei nähert sich der Preis mit fortschreitender Zeit immer weiter an das Wahlergebnis an - im Idealfall entspricht der Endpreis der Aktie dem tatsächlichen Wahlergebnis.
Beide Instrumente tauchen in einer Zeit auf, in der die klassischen Wahlumfragen in der Krise stecken: Die Wähler sind nicht mehr so fest wie früher an eine Partei gebunden, neue Parteien machen den etablierten Konkurrenz. Das machte es etwa bei der Niedersachsen-Wahl im Januar schwierig, den Wahlausgang vorherzusagen: Die FDP bekam fast doppelt so viele Stimmen wie in den Umfragen vorhergesagt. Wähler, die ursprünglich für die CDU stimmen wollten, machten am Wahltag ihr Kreuzchen doch bei der FDP, um deren Verbleib im Landtag zu sichern. Die Wahlforscher hatten das nicht kommen sehen.
"Bei Twitter ist vor allem die Elite aktiv"
Jetzt versucht man, das Internet als Quelle für die Demoskopie zu erschließen. Die Methoden ähneln jenen, die auch in den USA vor der vergangenen Präsidentschaftswahl ausprobiert wurden: Das Twitterbarometer, das Lobo gemeinsam mit dem Unternehmen Buzzrank entwickelt hat, ähnelt etwa dem amerikanischen "Twitter-Index". Dort wurden die kurzen Nachrichten der User auf einer Skala von 0 bis 100 danach bewertet, ob eher der eine oder der andere Kandidat besser wegkam.
Eine nette Idee, und der Index-Trend entsprach auch dem tatsächlichen Wahlergebnis. Für den Ausgang der Bundestagswahl lassen sich damit aber keine Vorhersagen treffen - zu kompliziert ist das deutsche Wahlsystem und zu wenig repräsentativ die Gruppe der Twitternutzer. Heiko Gothe befasst sich für Infratest dimap mit der Wahlforschung im Internet. Er sagt: "Bei Twitter ist vor allem die Elite aktiv." Dem amerikanischen Pew Research Center zufolge sind nur drei Prozent der Erwachsenen aktive Twitterer. Noch dazu sind die tendenziell liberaler als die Gesamtbevölkerung.
Dass gerade die AfD im deutschen Twitterbarometer so gut abschneidet, liegt Lobo zufolge aber auch an einem anderen Phänomen: Weil sich die Partei von den klassischen Medien nicht genug beachtet fühle, mobilisiere sie die eigenen Leute. "Die Fans der AfD sind in den sozialen Medien sehr aktiv", sagt Lobo. Das Twitterbarometer bildet also auch ab, wer am lautesten für sich trommelt.
"Wir versuchen die politische Stimmung zu messen"
Trotzdem: Dass die Reaktionen im Netz unmittelbar mit Ereignissen in der politischen Welt zusammenhängen, kann man deutlich sehen. Am Tag der Wahl in Schleswig-Holstein etwa, bei der die Piraten überraschend gut abschnitten, ging deren Kurve im Barometer steil nach oben. Das Drohnen-Debakel zeigt sich dagegen an mehr negativen Tweets über die Union. Bis jetzt wird die Twitter-Kurve alle 24 Stunden aktualisiert, der Zeitraum soll aber bald kürzer werden. So sollen die unmittelbaren Reaktionen künftig noch besser ablesbar werden. Lobo sagt: "Man kann dann zum Beispiel sehen, wie ein neu vorgestelltes Mitglied in Steinbrücks Kompetenzteam ankommt, oder welche Partei vom Verfassungsgerichts-Urteil zum Ehegattensplitting profitiert."
In ein Wahlergebnis mit konkreten Prozentzahlen lässt sich all das zwar nicht übersetzen - darum geht es Lobo aber auch nicht. "Wir versuchen, die politische Stimmung auf Twitter zu messen", sagt Lobo. Ohne das diffuse Element der gefühlten "Stimmung" funktionieren auch die Prognosemärkte nicht, die in den USA den Wahlausgang recht genau vorhersagten. Oliver Strijbis von der Universität Hamburg erklärt: "Man braucht gut informierte Teilnehmer, die aber nicht alle dieselbe Information haben dürfen. Es bringt nichts, wenn zehn Nerds mitmachen, die jede Umfrage kennen. Man braucht auch Leute, die ein Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung haben."
Die Spieler glauben es besser zu wissen als die Umfragen
Die Prognosemärkte basieren also auf den klassischen Umfragen: Die Mitspieler geben ihre Tipps nicht im luftleeren Raum ab. Die Märkte leben aber davon, dass die Spieler glauben, es besser zu wissen als die Umfragen. Beispiel FDP: Die steht bei Strijbis' Markt typischerweise bei über fünf Prozent, auch in Zeiten mauer Umfragewerte - weil die Spieler auf einen ähnlichen Wählerumschwung wie in Niedersachsen setzen. Auch die SPD schneidet besser ab als in den Umfragen: Offenbar glauben die Spieler, dass sich die Schwierigkeiten Peer Steinbrücks nicht auf das Wahlergebnis auswirken werden.
Die bekannteste Wahlbörse in den USA, Intrade, musste im November auf behördliche Anordnung schließen. Der genaue Grund wurde nicht bekannt gegeben - möglicherweise wurde Intrade als illegale Börse angesehen, weil man dort nicht nur auf den Präsidenten, sondern auch auf Rohstoffpreise spekulieren konnte. Auch Oliver Strijbis muss aufpassen, dass sein Angebot nicht als verbotenes Glücksspiel gewertet wird. Deswegen spielen die Spieler dort nicht mit eigenem Geld: Strijbis stellt das Startkapital zur Verfügung. Im Gegenzug muss man sich bewerben, bevor man mitspielen darf. Das Vorgehen ist gefährlich: Wer auf die Intelligenz der Masse setzen will, braucht eben auch eine Masse - Zulassungsschranken sind da hinderlich. Und noch einen Haken haben die Prognosemärkte: Sie lassen sich relativ leicht manipulieren, einfach dadurch, dass man immer auf seine Lieblingspartei setzt.
"Neue Medien werden überschätzt", urteilt denn auch Forsa-Chef Manfred Güllner. Sein Institut kam unlängst aber zu einem anderen Ergebnis. Das Internet werde den kommenden Wahlkampf bestimmen wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik, hieß es in einer vom IT-Branchenverband Bitkom veröffentlichten Umfrage. Urheber der Studie: Forsa.