Es ist eine irritierende Erfahrung im harten, manchmal brutalen Politikgeschäft, es ist anfangs schwer zu glauben. Normalerweise ist diese Welt voll winziger Stiche und Boshaftigkeiten, gewöhnlich kursieren über jeden in diesem Metier kleine Geschichten, die ihn in ein schlechtes Licht stellen, gern erzählt von sogenannten Parteifreunden.
Bei Malu Dreyer scheint diese Grundregel des Politikbetriebs außer Kraft gesetzt zu sein. Man kann sich unterhalten mit wem man will in Mainz oder Berlin - über die künftige Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz fällt kein schlechtes Wort. Ein Mirakel?
Vor Kurzem hat Malu Dreyer, derzeit noch Sozialministerin des Landes, Journalisten zu einer kleinen Reise eingeladen. Es ging an diesem Tag Anfang September quer durchs ganze Land, nach Koblenz, Marienrachdorf und Trier, und heute ahnt man, dass diese Tour wohl auch eine Frage beantworten sollte: Ist sie denn körperlich fit für ihr Amt und für höhere Aufgaben? Vor sechs Jahren gab Malu Dreyer auf einer Pressekonferenz bekannt, dass sie an multipler Sklerose leidet. Bis dahin war sie stets als Kronprinzessin genannt worden, aber danach, wegen der Krankheit, haben sie viele von der Liste möglicher Thronfolger genommen. Voreilig.
Malu Dreyer kann in wenigen Minuten einen Raum erwärmen
Der Bus war gerade mal ein paar Kilometer auf der Autobahn, da erzählte die 51-Jährige unbefangen, wie es ihr Wesen ist, von ihrem Urlaub in den USA. Es sei echt praktisch, wenn man in den USA eine Behinderung habe, plauderte sie, die ganze Familie profitiere davon. Am Flughafen zum Beispiel, da werde man vom Flieger abgeholt und könne im Rollstuhl an allen Schlangen vorbeifahren. Sie lachte, nein sie gluckste vergnügt, als sie diese Erlebnisse erzählte, und der ganze Bus war angesteckt von ihrer Fröhlichkeit. Malu Dreyer kann das, sie kann in wenigen Minuten einen Raum erwärmen.
An diesem Tag gab es eine Premiere. Sie hat sich zum ersten Mal im Rollstuhl gezeigt. Bei langen Fußwegen ließ sie sich lächelnd in ihren "Rolli" plumpsen und von ihrer Pressesprecherin oder einem Abteilungsleiter ans Ziel schieben. Sie lachte so herzlich dazu, dass ein Gedanke nicht fernlag: Wären alle Menschen so fröhlich wie diese Frau im Rollstuhl, keiner würde sich mehr über die ewig nörglerischen Deutschen wundern.
Malu Dreyer hat ihre Krankheit nie versteckt
Ihre Krankheit ist die Privatsache von Malu Dreyer, doch bei einer Regierungschefin stellt sich automatisch die Frage, ob sie ihr Amt durchhalten kann, einen der anstrengendsten Jobs der Republik. Malu Dreyer hat ihre Krankheit nie versteckt, es konnte auch jeder sehen, wie sie sich im Landtag mit kleinen, vorsichtigen Schritten von einem Helfer zur Regierungsbank führen lässt.
Seit einiger Zeit schon, so ist zu hören, hat sich ihr Zustand nicht verschlechtert, ist offenbar stabil. Sie hat sich mit ihren Ärzten besprochen, gemeinsam kam man offenbar zu dem Urteil, dass sie sich den Stress zutrauen kann. Im Bus plaudert sie noch bis Mitternacht munter mit den Reportern.
Schon bisher hat die Ministerin alles andere als ein reduziertes Programm absolviert. Seit März 2002 sitzt sie im Kabinett, und der Name ihres Ministeriums wird von Wahl zu Wahl länger. Inzwischen ist sie zuständig für "Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie", sie kümmert sich also gleich um mehrere Herzensthemen der Sozialdemokratie. Und schafft es, dabei Herzen zu gewinnen.
In Marienrachdorf im Westerwald steigt Malu Dreyer vor einem alten Bauernhof aus dem Bus. "Guten Tag, ich bin die Frau Dreyer, ich bin die Sozialministerin", sagt sie zu einer alten Frau, die hier wohnt, in einem Projekt, wie es ganz nach dem Geschmack der Ministerin ist. Ein Unternehmer hat den Hof umgebaut in eine WG für alte Menschen, sie können hier Hühner füttern und Gänse auf die Wiese treiben, trotzdem werden sie professionell versorgt.
Das ist eines der Ziele, für die Malu Dreyer in den vergangenen Jahren gearbeitet hat: Dass alte Menschen nicht zwangsläufig in ein Heim müssen, dass "sie eine echte Alternative haben", deshalb besucht sie auf ihrer Bustour gleich mehrere solcher Projekte. "Ich lebe ja selbst in so einem Wohnprojekt", sagt die Ministerin.
Sie wohnt im Zentrum von Trier im Schammatdorf, einem Modellprojekt, wo Behinderte und Nichtbehinderte, Alte und Junge wie in einem kleinen Dorf zusammenleben und gegenseitig "Verantwortung füreinander übernehmen", wie Malu Dreyer sagt. Sie ist also eine Ministerin, die ihre Politik selbst lebt, was durchaus einen spürbaren Unterschied macht bei der Leidenschaft, mit der sie über ihre Initiativen wie "Menschen pflegen" spricht.
Sie verhandelte bei den Gesundheitsreformen und erwarb sich Respekt
In Trier lebt Malu Dreyer zusammen mit ihrem Mann Klaus Jensen, dem ebenfalls sehr fröhlichen und keinesfalls gewöhnlichen Oberbürgermeister, und dessen drei Kindern. Sie hat einmal erzählt, wie sie sich das erste Mal begegneten, da war sie noch Bürgermeisterin in Bad Kreuznach und ihr späterer Mann Staatssekretär im Sozialministerium, der zur Einweihung einer Kita kam. "Ich habe gedacht: Was ist denn das für ein toller Politiker", sagt Malu Dreyer.
Inzwischen sehen sich die beiden praktisch nur am Wochenende, was auch daran liegt, dass Malu Dreyer häufig in Berlin weilt. Sie verhandelte bei den Gesundheitsreformen mit und erwarb sich rasch den Respekt der Bundespolitiker. Sie sitzt auch im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat. Sie ist also präsent in der Hauptstadt, auch wenn die Juristin nie den Drang verspürte, dorthin zu wechseln.
Sie wirft die CDU-Taktik über den Haufen
Nun ist sie also als Siegerin hervorgegangen aus dem langen Machtkampf um Kurt Becks Nachfolge. Nicht nur ihre herzliche Art hat ihr geholfen, nicht nur ihre Fachkompetenz, sondern auch, dass sie als eine der wenigen SPD-Politiker in Rheinland-Pfalz unbelastet ist von dem Skandal um die Pleite am Nürburgring. Alles zusammen macht sie zu einer perfekten Überraschungskandidatin, die nicht nur die eigene Partei begeistert, sondern auch die politischen Gegner in große Not bringt.
Bei der rheinland-pfälzischen CDU steht ebenfalls eine Frau an der Spitze, Julia Klöckner, die in den vergangenen Monaten all ihre Kraft in Angriffe auf Kurt Beck gelenkt hat. Bald ist Beck weg und die forsche CDU-Herausforderin muss es mit einer allseits beliebten Regierungschefin aufnehmen, von der bislang kein einziges Skandälchen bekannt ist.
Das wirft die CDU-Taktik über den Haufen. Malu Dreyer ist übrigens Profi genug, um zur richtigen Zeit auch mal zu schweigen. Als die SZ sie diese Woche zu ihrer Zukunft befragen wollte, ließ sie von ihrer Sprecherin ausrichten: So viele Termine! Da sei leider keine Zeit für ein Telefonat.