Auf der Homepage Christian von Boettichers ist seine Welt noch in Ordnung: Windzersaust unter freiem Himmel zeigt sich der Christdemokrat auf Fotos, beim Kickern und mit Noch-Ministerpräsident Peter Harry Carstensen. Den schleswig-holsteinischen Landesvater wollte Boetticher politisch beerben bei der Landtagswahl am 6. Mai 2012 - doch das ist alles vorbei.
An diesem Sonntagabend trat Boetticher vor die Presse erklärte seinen Verzicht auf Spitzenkandidatur und Landesvorsitz. Es war ein Paukenschlag: Mit Tränen in den Augen gestand er eine Beziehung zu einer Minderjährigen ein, die der 40-Jährige im vergangenen Jahr hatte. Boetticher sprach von "Liebe" zu der damals 16 Jahre alten Schülerin. Dann bat er um ein Taschentuch. Angeblich war er zur Zeit der Liebschaft nicht anderweitig liiert - doch das darf bezweifelt werden.
Keine 24 Stunden später folgt auch der Rückzug vom Amt des Fraktionsvorsitzenden: "Um weiteren Schaden von meinem Umfeld, von meiner Fraktion und von meiner Person abzuwenden, habe ich mich heute um 17.10 Uhr entschieden, auch als Vorsitzender der CDU-Fraktion im schleswig-holsteinischen Landtag zurückzutreten", heißt es, diesmal allerdings nicht unter Tränen und vor Fernsehkameras, sondern in einer kurzen schriftlichen Erklärung.
Am Tag nach Boettichers Seelenstriptease reagiert die Opposition im hohen Norden vorsichtig bis hämisch: "Landeshaus gleich in heller Aufregung", twittert SPD-Landeschef Ralf Stegner aus dem Kieler Landesparlament am Morgen, "auch Doppelmoral kann man merken!"
Marlene Löhr, Landeschefin der Grünen, haut in die gleiche Kerbe: "Gerade als Politiker, der gerne seine konservative Seite betont, muss Boetticher wissen, wie es sich auswirkt, wenn eine solche Beziehung bekannt wird", sagt Löhr zu sueddeutsche.de. Mitleid empfinde sie nicht.
Christian von Boetticher hatte sich gerne als forscher Jungkonservativer in Szene gesetzt. Das kam an im "rechten" Landesverband der CDU, auch wenn die Popularität des Adeligen mit deutschbaltischen Wurzeln im eigenen Lager steigerungsfähig blieb. Immer mal wieder argumentierte er gegen den von CDU-Chefin Angela Merkel vorangetriebenen Reformkurs. Boetticher sprach sich etwa angesichts der Nachwuchsprobleme bei der Bundeswehr dafür aus, über "eine Wiedereinführung der Wehrpflicht" nachzudenken. Bei seiner Wahl zum Landesvorsitzenden im Herbst 2010 versicherte er, "die konservativen Werte der CDU" besser "herausarbeiten" zu wollen. Da lag die Affäre mit der 16-Jährigen erst wenige Monate zurück.
Man sei gut beraten, Boettichers private Dinge nicht weiter kommentieren, sagen Löhr und Stegner. Ähnlich formuliert es Torsten Albig, der SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahl. Die Parole im Oppositionslager lautet derzeit: Bloß keine allzugroße Schadenfreude zeigen, einfach abwarten, was passiert.
Bei der gebeutelten Nord-CDU versucht man in der Zwischenzeit fieberhaft, die Führungskrise in den Griff zu bekommen. Neun Monate vor der Wahl muss ein neuer Spitzenmann (oder eine Spitzenfrau) her. Inzwischen verdichten sich die Anzeichen, dass Wirtschaftsminister Jost de Jager die Partei in die Landtagswahl führen soll. Der 46-Jährige hat nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur seine Bereitschaft bereits signalisiert.
Als mögliche Nachfolgekandidaten für den Vorsitz der CDU-Fraktion im Kieler Landtag gelten der bisherige Fraktionsvize Hans-Jörn Arp und sein Amtskollege Johannes Callsen sowie Finanzexperte Tobias Koch. Nachdem Boetticher auch diesen Posten verloren hat, könnte er gleichzeitig auch sein Landtagsmandat zurückgeben - dass er als Hinterbänkler im Parlament bleibt, ist für viele schwer vorstellbar.
Doch ein Komplett-Abgang des bisherigen Vormannes wäre für die Koalition brandgefährlich: Denn dann stünde die Ein-Stimmen-Mehrheit von Schwarz-Gelb auf der Kippe. Nach Angaben eines Landtagssprechers würde die Landeswahlleiterin in diesem Fall zwar einen Unions-Abgeordneten nachrücken lassen. Ob dies geht, ist rechtlich umstritten. Die Opposition könnte dagegen vor dem Landesverfassungsgericht klagen. Hintergrund sind drei ungedeckte Überhangmandate der CDU im Kieler Landtag.
Stegner lässt offen, ob die SPD vor Gericht ziehen würde, hält in diesem Fall vorgezogene Neuwahlen für wahrscheinlich: "Der Landtag ist ohnehin nicht verfassungsgemäß zusammengesetzt", sagt er zu sueddeutsche.de. Seine Partei sei bestens vorbereitet: "Die SPD könnte in sieben Wochen wählen."
"Die Nase voll"
Derzeit hätte die regierende schwarz-gelbe Koalition kaum eine Chance, bestätigt zu werden: Bei der jüngsten Umfrage vom Mai lag die CDU bei 33 Prozent, die FDP wäre mit vier Prozent nicht einmal mehr im Parlament vertreten. SPD (31) Prozent und Grüne (22 Prozent) hätten der Erhebung zufolge eine stabile Mehrheit - wobei Grünen-Chefin Löhr auch nach Boettichers Abgang betont, dass man keine Partei als potentiellen Parter favorisiere. Man gehe zuversichtlich in den Wahlkampf.
Sozialdemokrat Stegner ist ebenso optimistisch, was den Urnengang angeht - egal, ob schon im Herbst oder erst in neun Monaten gewählt wird: Die Grünen hätten ihren Zenit überschritten, behauptet er. Und die Causa Boetticher mache allen ersichtlich, in welch "desolatem Zustand" sich die CDU im hohen Norden befinde: "Wir haben die besten Chancen, die Wahl zu gewinnen", frohlockt Stegner, "die Leute haben die Nase voll."