Mutmaßlicher Bombenleger:Stümper mit perfekten Zündern

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Der Tatverdächtige soll äußert kaltblütig gehandelt haben: Für seinen persönlichen Profit plante er wohl, Fußballspieler zu ermorden.

Von G. Mascolo, F. Röckenhaus, S. Mayr und J. Bielicki

Es war früh am Morgen, die meisten Profi-Fußballer von Borussia Dortmund dürften noch in ihren Betten gelegen haben, als die Spezialeinheit GSG 9 zuschlug. Im württembergischen Tübingen, 450 Kilometer von Dortmund entfernt, holten die Zivilbeamten einen Mann aus dem Auto, dem sie gefolgt waren, seit er sich um etwa fünf Uhr in Rottenburg am Neckar auf den Weg zur Arbeit gemacht hatte: Sergej W., 28, beschäftigt als Elektriker in einem Heizkraftwerk in Tübingen.

Schon kurz darauf sickerte durch, was es mit der Festnahme auf sich hatte. Sergej W. soll der Mann sein, der zehn Tage zuvor drei Sprengsätze neben dem Mannschaftsbus der Borussia gezündet hatte. Und wenn die Ermittler richtig liegen, ist er kein Extremist, kein Islamist, wie am Tatort abgelegte Bekennerschreiben weismachen wollten, und auch kein Rechtsextremist. Das Motiv war demnach schlicht: Habgier.

Denn hinter der offiziellen Beschuldigung durch die Bundesanwaltschaft - in strafrechtlichen Paragrafen ausgedrückt: versuchter Mord, Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion und gefährliche Körperverletzung - steckt laut den Ermittlern eine Tat, wie es sie in Deutschland noch nicht gegeben hat. Sergej W. wollte demnach viel Geld mit einem Spekulationsgeschäft auf einen fallenden Aktienkurs der börsennotierten Borussia machen. Den Kurs wollte er selbst zum Fallen bringen, durch einen potenziell tödlichen Anschlag auf Spieler und Betreuer. Die am Tatort deponierten Bekennerschreiben sollten die Ermittler auf eine falsche Spur Richtung Terrorverdacht führen.

Bereits am Tag nach der Tat hatte ein Händler auf seltsame Geschäfte hingewiesen

Aber bereits vor Ostern hatte sich in der Ermittlungsgruppe "Pott" eine Wende abgezeichnet: Die Bekennerschreiben die auf einen islamistischen Hintergrund hindeuteten, wurden als unglaubwürdig eingeschätzt. Neben Staatsschützern wurden Ermittler aus dem Bereich der allgemeinen und der organisierten Kriminalität hinzugezogen. Bereits am Tag nach der Tat hatte sich zudem ein Optionsscheinhändler an den Syndikus des BVB gewandt und auf ungewöhnliche Optionsgeschäfte hingewiesen. Der Syndikus gab den Hinweis an die Polizei in Dortmund weiter. Ein weiteres entscheidendes Puzzlestück lieferte die Commerzbank: Ein Sergej W., geboren im russischen Tscheljabinsk, hatte über die Commerzbank-Tochter Comdirect drei verschiedene Put-Optionen auf die Aktie von Borussia Dortmund erworben, das Gros davon erst am Tag der Tat selbst.

(Foto: Maja Hitij/Getty Images)

Zusätzliche Ermittlungen förderten dann weitere belastende Indizien zutage: Sergej W. besitzt technischen Sachverstand, er arbeitet als Elektriker im Biomasse-Heizkraftwerk des Tübinger Universitätsklinikums. Er nahm einen Verbraucherkredit in Höhe von etwa 40 000 Euro auf, um die Aktienoptionen zu erwerben. Solche Put-Derivate bringen Geld, wenn Kurse fallen: "Der Gewinn des Beschuldigten wäre umso höher ausgefallen, je weiter die Aktie von Borussia Dortmund gefallen wäre", sagte Frauke Köhler, die Sprecherin von Generalbundesanwalt Peter Frank, am Freitag. Die Finanzermittler des Bundeskriminalamts rechnen noch, wie hoch der Gewinn ausgefallen wäre, aber klar ist: Jeder Verletzte oder Tote im BVB-Bus hätte die Rendite des mörderischen Deals steigen lassen - denn das eigentliche Kapital der Aktiengesellschaft Borussia Dortmund sind seine Spieler.

Die Laufzeit dieser Papiere endet am 17. Juni, Sergej W. musste also sicher sein, dass die BVB-Aktie in kurzer Zeit stark fallen würde. Zudem hatte er bereits Mitte März im Mannschaftshotel ein Zimmer für den Zeitraum vom 9. bis 13. April 2017 sowie für den Zeitraum vom 16. bis 20. April 2017 gebucht. Die Termine umfassen beide Begegnungen der Champions League zwischen Borussia Dortmund und AS Monaco. Zum Zeitpunkt der Buchung stand allerdings noch nicht fest, an welchem der beiden Termine das Heimspiel in Dortmund stattfinden wird. Hotelangestellte erinnerten sich daran, dass der Verdächtige ausdrücklich auf ein Zimmer mit Blick auf die Straße bestand. Das war deshalb ungewöhnlich, weil im Hotel L'Arrivée normalerweise die rückwärtigen Zimmer begehrter sind, von denen der Blick in den Niederhofer Wald geht. Bereits zwei Tage vor der Tat bekam Sergej W. jedoch ein Zimmer mit der gewünschten Aussicht auf die Straße, im Dachgeschoss des Hotels. Und hier im Hotelzimmer kaufte er auch online den Großteil seiner Aktienderivate, wie die Ermittler anhand der beim Kauf verwendeten IP-Adresse nachverfolgen konnten.

Nachdem die Sprengsätze explodiert waren, erwies er sich als ziemlich kaltblütig, er reiste nicht sofort ab, sondern ließ sich, wie alle anderen Hotelgäste auch, von der Polizei befragen. Die Rechnung weist laut den Ermittlungen aus, dass er noch ein Steak gegessen hatte und sich massieren ließ. Was die Ermittler allerdings erstaunte, war die laut BKA-Einschätzung große Diskrepanz zwischen der "Top-Terrorismus-Qualität" der Zündung und der Sprengstoffanordnung einerseits und der andererseits teils dilettantischen Ausführung des Anschlags. So soll Sergej W. sich beim Anbringen der Sprengsätze an einer Hecke zwei üble Zeckenbisse zugezogen haben, die sich dann am Tag nach dem Anschlag derart entzündeten, dass er damit zum Arzt musste - und so ein weiteres Teil im Ermittlungspuzzle lieferten.

Offenbar war es auch einem Fehler des Bombenlegers zu verdanken, dass bei der Explosion nur der Borussia-Verteidiger Marc Batra am Arm verletzt wurde. Die Sprengsätze waren so gebaut, dass sie durchaus tödliche Wirkung hätten entfalten können. Sie waren über eine Länge von 12 Metern in einer Hecke angebracht, die sich entlang der Zufahrt zum Hotel erstreckt. Als der Bus mit den Spielern vorbeifuhr wurden sie, so die Bundesanwaltschaft, "zeitlich optimal gezündet". Der mittlere Sprengsatz war allerdings zu hoch angebracht, die sieben Zentimeter langen Metallstifte, mit denen diese Bombe - so wie die anderen auch - bestückt waren, flogen über den Bus hinweg. Eines dieser potenziell tödlichen Geschosse wurde noch in einer Entfernung von 250 Metern aufgefunden. Das zeigt die Wucht der Explosion. Gezündet wurde nach derzeitigem Erkenntnisstand der BKA-Experten jeder Sprengsatz separat per Funk über eine elektrische Schaltung. Zur Art des verwendeten Sprengstoffs haben die Ermittler noch keine gesicherten Erkenntnisse. Der Sprengstoff sei bei der Explosion komplett "umgewandelt" worden, weshalb die Kriminaltechniker erst anhand von Bodenproben ermitteln müssten, um welche Art es sich gehandelt habe.

Es gebe bisher keine Anhaltspunkte für Gehilfen oder Mittäter, sagen Ermittler

Ab Freitagmorgen durchsuchten die Ermittler mehrere Wohnungen in Freudenstadt, Rottenburg am Neckar und Haiterbach im Landkreis Calw, in denen sich Sergej W. öfter aufgehalten haben soll. Die Familie war vor 14 Jahren aus Tscheljabinsk im Südural nach Deutschland gekommen. Sergej W. war damals 14 Jahre alt. Gemeldet war er in dem Schwarzwald-Kurort Freudenstadt zwischen Karlsruhe und Freiburg - in einem Wohnblock in der Nähe des Stadtbahnhofs. "Das sind nette ruhige, Leute. Sergej hat freundlich und unauffällig gewirkt, er war immer ordentlich gekleidet", sagt der Hausmeister des Wohnblocks. Zuletzt gewohnt hatte er bei seiner Freundin in Rottenburg am Neckar. Von dort war er auch zur Arbeit nach Tübingen losgefahren - und festgenommen worden.

Credit: SZ-Grafik; Quelle: SZ; Foto: Google Earth (Foto: DIV)

BVB-Chef Hans-Joachim Watzke war bereits am Morgen von Bundesinnenminister Thomas de Maizière über den Zugriff informiert worden. Er äußerte sich erleichtert, kündigte aber auch an, der Klub werde "viel Geld in die Hand nehmen, um die Sicherheitssituation der Mannschaft weiter zu verbessern" Unter anderem will er eine neue, eigene Abteilung Sicherheit bei der Borussia einrichten. Vorstellungsgespräche mit früheren GSG 9- und BKA-Leuten habe er bereits geführt, sagte er.

Die Bundesanwaltschaft hält sich mit offiziellen Aussagen weitgehend bedeckt. War Sergej W. ein Einzeltäter? Jedenfalls gebe es bisher keine Anhaltspunkte für Gehilfen oder Mittäter, heißt es. Am Freitagnachmittag erließ der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof jedenfalls Haftbefehl gegen Sergej W., er sei dringend verdächtig. Die Bundesanwaltschaft wird den Fall vermutlich zu Ende ermitteln, auch wenn es sich nicht um ein politisch motiviertes Attentat handelt. Für Mord aus Geldgier ist der Generalbundesanwalt normalerweise nicht zuständig. Hier aber wollte der mutmaßliche Täter offenbar mit einem fingierten islamistischen Bekennerschreiben einen Terrorakt vortäuschen. Das dürfte für die Zuständigkeit der Karlsruher Ermittler genügen.

Welche Strafe muss ein Täter erwarten, der aus derart zynischem Kalkül das Leben von Menschen aufs Spiel setzt? Nach bisherigen Erkenntnissen war dies ein Mordversuch aus Habgier - und darauf steht in der Regel lebenslange Haft. Die Strafe könnte zwar theoretisch auch gemildert werden, aber nur, wenn besondere Umstände für den Beschuldigten sprächen. Die kann im Moment beim besten Willen niemand erkennen.

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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