Mord in Moskau:Warum musste Boris Nemzow sterben?

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  • Das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation hält den Mordfall Nemzow für gelöst: Ein religiös motivierter Tschetschene soll die Tat begangen haben.
  • Nemzows Hinterbliebene, seine Anhänger und kritische Medien in Russland glauben das jedoch nicht. Zu viele Verbindungen der angeblichen Täter führen zu hochrangigen Politikern und Angehörigen russischer Sicherheitsorgane - und zum Präsidenten Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow.
  • Die Zeitung Nowaja Gaseta geht davon aus, dass es an Präsident Putin liege, bis zu welcher Ebene der Mord tatsächlich aufgeklärt wird.

Von Julian Hans, Moskau

Die Sitzung der russischen Staatsduma am Dienstag wäre eine Gelegenheit gewesen für ein Zeichen. Dafür, dass im Tod jede Feindschaft aufhört und dass ein Mord als Mittel der politischen Auseinandersetzung nicht geduldet wird. Doch die Gelegenheit verstrich ungenutzt. Das Zeichen war nicht erwünscht.

Der junge Abgeordnete Dmitrij Gudkow, seit Langem schon in der Rolle einer Art Ein-Mann-Opposition im Parlament, in dem die Parteien zwar unterschiedliche Namen tragen, ihre Vertreter aber stets im Sinne des Kreml abstimmen, hatte eine Gedenkminute für Boris Nemzow beantragt. Immerhin war dieser einst Fraktionschef in diesem Parlament und Vizepremier, auch wenn das schon mehr als 15 Jahre her ist. Doch Parlamentspräsident Sergej Naryschkin ließ den Antrag erst gar nicht zur Abstimmung zu.

Mitglied des russischen Rats für Menschenrechte berichtet von Folterspuren

Der Nationalist Wladimir Schirinowskij erinnerte daran, dass das Parlament sich nur zum Gedenken erhebe, wenn der Präsident des Landes Volkstrauer ausgerufen habe. Wladimir Putin aber hatte es nach dem Mord an einem seiner erbittertsten Gegner bei einem Telegramm an die Mutter des Getöteten belassen. "Bei uns stirbt jede Woche jemand", sagte Schirinowskij, "dann steht die Duma nur noch."

Demonstrationszug im Zentrum Moskaus für den ermordeten Putin-Gegner Boris Nemzow. (Foto: Alexander Utkin/AFP)

Seitdem ein Moskauer Gericht vor einer Woche Haftbefehl gegen fünf Männer aus Tschetschenien erlassen hat, gelten die Täter als gefasst. Staatliche und Kreml-kritische Medien gleichermaßen präsentieren den 31-jährigen Saur Dadajew als denjenigen, der mutmaßlich die sechs Schüsse auf Boris Nemzow abgegeben hat. Sein Geständnis aber hat er inzwischen widerrufen.

Ein Mitglied des russischen Rats für Menschenrechte berichtete von Folterspuren an seinem Körper. Beschuldigt werden außerdem die Brüder Schagid und Ansor Gubaschew, die den Ermittlungen zufolge ihrem Opfer seit Wochen gefolgt sein sollen. Sie sind mit dem Hauptbeschuldigten Dadajew verwandt.

Über die Fragen, wer den Auftrag für den Mord gab und ihn organisiert hat, welche Motive dahinter stehen, über all das gehen die Meinungen weit auseinander. Das Ermittlungskomitee der Russischen Föderation, eine Art russisches FBI, erklärte den Fall für gelöst. Dadajew soll Schütze und Organisator sein. Sein Motiv: religiös begründeter Hass, weil Nemzow sich nach dem Anschlag von Paris mit der Redaktion des Satireblatts Charlie Hebdo solidarisch erklärt hatte.

Connection in den Kaukasus: Hat Tschetschenen-Präsident Ramsan Kadyrow (l.) etwas mit dem Auftragsmord an Nemzow zu tun? Kadyrow bei einer Parade. (Foto: AFP)

Merkwürdige Verbindungen zu einer fragwürdigen Militäreinheit

So verbreiten es die staatstreuen Medien. Doch weder Nemzows Hinterbliebene noch seine Anhänger aus der Opposition, noch kritische Medien in Russland schenken dem Glauben. Zu viel spricht dagegen. Und zu viele Verbindungen führen von den festgenommenen Männern zu hochrangigen Politikern und Angehörigen russischer Sicherheitsorgane.

Als vor Gericht die Kameras liefen, rief der bärtige Dadajew: "Ich liebe den Propheten Mohammed." Doch als Journalisten im Kaukasus seine Mutter ausfindig machten, konnte diese sich nicht daran erinnern, dass ihr Sohn je besonders religiös gewesen sei. Ähnlich ging es den Verwandten der anderen Beschuldigten.

Nemzwos Aussagen nach dem Attentat in Paris waren sehr zurückhaltend; er rief nicht dazu auf, Karikaturen des Propheten Mohammed zu drucken. Und er war nicht der einzige russische Politiker, der Solidarität zeigte: Außenminister Sergej Lawrow nahm in Paris am Trauermarsch teil. Auch der französische Schauspieler Gérard Depardieu, Putin und dem tschetschenischen Gewaltherrscher Ramsan Kadyrow seit Jahren freundschaftlich verbunden, veröffentlichte ein Foto, in dem er ein Schild mit der Aufschrift "Je suis Charlie" hält.

Drei unter Mordverdacht in Moskau festgenommene Tschetschenen. (Foto: Ivan Sekretarev/AP)

Kadyrow aber ist der Mann, zu dem zahlreiche Verbindungen von den mutmaßlichen Tätern führen. Saur Dadajew war zweiter Kommandeur im Bataillon "Sewer" (Norden). In der Einheit wurden nach dem Ende des zweiten Tschetschenienkrieges vor sechs Jahren die Kämpfer des Moskau-treuen Achmat Kadyrow organisiert, des Vaters von Ramsan. Die etwa 600 Mann sind als Teil der 46. Brigade des Innenministeriums in Grosny stationiert.

Als die Festnahme publik wurde, gab Kadyrow ein zweideutiges Statement ab: "Ich kannte Saur als echten Patrioten Russlands", sagte er und lobte ihn als "einen der tapfersten und furchtlosesten Soldaten der Einheit". Er sei wohl wie alle Muslime "von den Taten Charlies und den Worten der Unterstützung für die Karikaturen erschüttert" gewesen. Einen Tag später verlieh Putin Kadyrow den Verdienstorden "für die erreichten Erfolge, eine aktive gesellschaftliche Tätigkeit und langjährige gewissenhafte Arbeit". Ein Kreml-Sprecher stritt jeden Zusammenhang ab. Die Auszeichnung sei seit Monaten vorbereitet gewesen.

Die kritische Nowaja Gaseta, bekannt für aufwendige Recherchen, legte weitere Verbindungen zwischen dem Bataillon Sewer und der Politik offen. Organisiert hat den Mord demnach nicht Dadajew selbst, sondern ein anderer hochrangiger Offizier der Einheit mit Namen Ruslan, hieß es unter Berufung auf Ermittler.

Der Blogger Alexej Nawalny veröffentlichte daraufhin bald den Nachnamen des Mannes: Ruslan Geremejew ist der Neffe eines Abgeordneten, der für die Republik Tschetschenien im Föderationsrat sitzt, dem Oberhaus des russischen Parlaments. Bataillonschef soll der Bruder eines anderen Abgeordneten sein. Nach Recherchen der Nowaja Gaseta soll er Dadajew nach Moskau begleitet haben.

Das Blatt glaubt, dass es am Präsidenten selbst liege, bis zu welcher Ebene der Mord aufgeklärt wird. Bei den Ermittlungsbehörden und bei der Polizei sei der Ärger über die Tschetschenen groß, die mit dem Mord hundert Schritte vom Kreml entfernt das Gewaltmonopol des Staates herausgefordert hätten. Zwischen zwei Stützen des Regimes - dem Geheimdienst und den Moskau-treuen Tschetschenen - sei ein offener Krieg ausgebrochen.

Nemzows Tochter, die 30-jährige Fernsemoderatorin Schanna Nemzowa, hält diese Version für viel zu kompliziert. Machtkämpfe gebe es wohl, aber sie seien nicht der Anlass für den Mord. "Mein Vater war eine zentrale Figur der Opposition. Ramsan Kadyrow wurde mit einem Orden ausgezeichnet." Darin liege wohl die Wahrheit verborgen, die sich viele nicht auszusprechen trauten.

© SZ vom 18.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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