Der Streit um eine gemeinsame Migrationspolitik bringt die Europäische Union immer wieder an den Rand der Handlungsunfähigkeit. Vor mittlerweile fast zwei Jahren hat die EU-Kommission, als Reaktion auf die Krise der Jahre 2015 und 2016, ein umfassendes Konzept dafür vorgestellt. Es reicht von der Sicherung der Außengrenzen über die Abschiebung von Asylbewerbern bis zur Integration von Zuwanderern in den Arbeitsmarkt.
"Migrationspakt" heißt das Papier, als Neuanfang wurde es damals angepriesen, aber es scheiterte stets an einem Punkt: der solidarischen Aufnahme von geflüchteten Menschen, der sich vor allem Ungarn und Polen verweigerten. Und nun gibt es tatsächlich einen Neuanfang - oder zumindest einen konkreten Versuch.
Newsletter abonnieren:SZ am Sonntag-Newsletter
Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.
Deutschland und Frankreich wollten gemeinsam vorangehen bei einem "freiwilligen Solidaritätsmechanismus", sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) am Freitag vor einem Treffen des Innen-Rates der EU in Luxemburg. Das Ziel ist es vor allem, die Mittelmeerländer Griechenland, Zypern, Italien, Malta und Spanien zu entlasten. Im Gegenzug erklären diese sich bereit, an ihren Grenzen mehr Aufgaben bei der Aufnahme und Überprüfung von ankommenden Flüchtlingen zu übernehmen.
Mehr Sicherheit gegen mehr Solidarität - so lautet der Deal. Er wurde von den Ministerinnen und Ministern am Freitag mit großer Mehrheit im Grundsatz beschlossen. Allerdings muss sich der Rat noch mit dem Europaparlament über das Konzept verständigen.
Innerhalb eines Jahres sollen mindestens 10 000 Geflüchtete verteilt werden
Präsident Emmanuel Macron hatte versprochen, er wolle unter französischer Ratspräsidentschaft Bewegung in die Migrationspolitik bringen. Dies ist nun das Ergebnis. Der "Mechanismus" ist erst einmal auf ein Jahr befristet, als vertrauensbildende Maßnahme für beide Seiten - die Staaten an den Außengrenzen und die aufnehmenden Staaten. Wer keine Migranten aufnehmen will, soll ihnen auf andere Weise helfen - etwa mit Geld oder Sachleistungen.
Der französische Innenminister Gérald Darmanin nannte die Einigung vom Freitag "historisch". Er kündigte an, es werde schon in den nächsten Tagen ein Treffen der aufnahmewilligen Staaten geben, um die die politische Einigung zu konkretisieren. Die für Migrationsfragen zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson sprach von einem "bedeutenden Fortschritt" beim Versuch, den Migrationspakt voranzubringen.
Die große Frage ist nun allerdings wie viele Länder wirklich Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die deutsche Innenministerin Faeser schätzt, dass sich zehn bis zwölf Länder beteiligen könnten. Ziel ist es, binnen eines Jahres mindestens 10 000 geflüchtete Menschen innerhalb der EU zu verteilen. Der Mechanismus soll in die bereits bestehende Solidaritäts-Plattform, die nach Beginn des Kriegs in der Ukraine geschaffen wurde, integriert werden.
Der österreichische Innenminister Gerhard Karner plädierte vor dem Ministertreffen in Luxemburg dafür, den Schutz der Außengrenzen stärker in den Mittelpunkt zu stellen und warnte davor, Schleppern ein falsches Signal zu senden: "Und so ein Signal wäre: Europa ist offen, Europa nimmt auf."