Michail Sergejewitsch Gorbatschow stieg 1985 zunm mächstigsten Mann der Sowjetunion auf - zunächst als Generalsekretär der KPdSU, dann als Präsident. Gorbatschow forcierte mit seiner Reformpolitik das Ende des Kalten Krieges (und, ungewollt, der Sowjetunion). Genscher empfand er als ehrlichen Partner - und später als Freund.
"Das erste Treffen war am 21. Juli 1986. Daran erinnere ich mich gut. Wir sprachen über die Bedeutung der Schlussakte von Helsinki, den Bau des Europäischen Hauses, die Lieblingsbeschäftigung von Gorbatschow, und über die bilateralen Beziehungen. So war das. Damals wurde die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands praktisch nicht besprochen. Das ist wohl auch verständlich.
Man traf sich ja zum ersten Mal, und der eine würde auf etwas bestehen und der andere würde sagen: 'Sitzen Sie, warten Sie'. Beim ersten Treffen haben wir einander sofort durchschaut und begriffen, dass wir einen Dialog führen können. Er ist natürlich eine sehr bedeutende Person. Und all das hat sich später bestätigt.
(Über Genscher als Verhandlungspartner in den 2+4-Gesprächen) Man kann es kaum Verhandlungen nennen. Es waren schon Gespräche von Menschen, die sich zu gleichen Werten, gleichen Prinzipien bekennen. Ich weiß nicht, wer von meinen ausländischen Freunden mir heute näher stünde als er, Genscher.
Wir besprachen, machten Notizen, Bemerkungen und danach trennten wir uns für eine gewisse Zeit und arbeiteten. Es gab eigentlich keine Prügelei.
Es gab zwei besondere Momente. Es wurde ein Film gedreht über mich, Bush, Genscher und andere. Dabei erzählte er von einem Fall, es war unmittelbar vor dem Kriegsende.
Genscher war damals 17 Jahre alt, er war in einem Ort und wollte dort in ein Gebäude gehen. Er machte die Eingangstür auf. Zur selben Zeit wurde im selben Gebäude eine andere Tür geöffnet. Und so standen zwei junge Burschen einander gegenüber: Ein Russe und ein Deutsche. Sie sagten nichts, guckten sich an, drehten um und gingen weg, mit Waffen in der Hand. Man hätte nur den Hahn abdrücken müssen, um einander zu erschießen. Erschütternd!
Und noch ein besonderer Moment. Genscher reiste her, genau zu der Zeit, als Helmut Kohl sein 10-Punkte-Programm veröffentlichte. Ich sagte zu Genscher: 'Kann man mit Ihnen Beziehungen haben oder nicht? Wir beschäftigen uns mit solchen Problemen und womit beschäftigen Sie sich?' Er hielt alles aus, weil er - wie auch ich - über diese 10 Punkte gar nichts wusste. Aber er konnte seinen Kanzler nicht im Stich lassen.
Sogar als er krank war, Operationen überstand, war ich überrascht, was für ein mutiger Mensch er ist. Als Mensch ist er mir sehr sympathisch. Wenn es anders wäre, könnte mich keine Politik mit jemandem verbinden. Ich will damit nicht sagen, dass wir gleich sind, wie Kopien voneinander. Nein, wir sind verschieden. Aber unsere Wahrnehmungen über die Welt sind sehr ähnlich.
Er ist ohne Zweifel ein hervorragender Mensch. Ein Mann von Welt, ein Intellektueller, ein Liberaler. Liberal im guten Sinn dieses Wortes. Es gibt verschiedene Liberale. Aber er lässt keine Angriffe gegen sich unbeachtet. Er ist ein Mensch, der zurückschlagen und würdig parieren kann. Er ist ein würdevoller Mensch. Wir sind aber nicht nur Verbündete. Nein, wir sind gute Freunde im menschlichen Sinne. Am wichtigsten ist, dass man zueinander Vertrauen hat. Dann kann man alles ent-scheiden und sich einig werden."
(Aufgezeichnet von Irina Djomina und Frank Nienhuysen)