"Übervater der Liberalen", "Mann der Mitte", "Dauerläufer" im Außenamt: Hans-Dietrich Genscher trug viele Titel. Der FDP-Politiker prägte die Bundesrepublik ab 1969 jahrzehntelang und bereitete den Weg zur deutschen Einheit. Hans-Dietrich Genscher wurde am 21. März 1927 in Reideburg (heute ein Stadtteil von Halle an der Saale) geboren. Nach Kriegsgefangenschaft, Ergänzungsabitur und Tuberkuloseerkrankung begann Hans-Dietrich Genscher 1946 bei der Liberal-Demokratischen-Partei (LDP, später LDPD) in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands sein erstes politisches Engagement. Sechs Jahre später trat er der Freien Demokratischen Partei im Westen bei. Er sollte in den folgenden Jahrzehnten eine der bekanntesten Persönlichkeiten der FDP werden. Genscher führte die Ost- und Entspannungspolitik der sozialliberalen Ära fort, trieb in der Wendezeit die Einheit Deutschlands voran und setzte sich für ein geeintes Europa ein.
Genscher zog 1965 zum ersten Mal in den Bundestag ein. Er wurde der Parlamentarische Geschäftsführer der Partei und während der Kanzlerschaft von Kurt Georg Kiesinger 1966 eine wichtige Stimme der Opposition. Mit dem Regierungswechsel 1969 wurde Genscher (links) unter dem sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt (rechts) Innenminister. Der FDP-Parteivorsitzende Walter Scheel (Mitte) nahm das Amt des Außenministers an. Das Bild zeigt die drei Politiker im Bonner Bundestag im Jahre 1970.
Der Jurist Genscher profilierte sich im Innenressort mit seiner "sicheren Witterung für Zukunftsthemen", so schrieb die FAZ. Zu seinen Reformansätzen gehörte etwa der Ausbau des Bundeskriminalamts (BKA). Willy Brandt (Mitte) besuchte 1972 das BKA mit Genscher (links), um sich einen sichergestellten Sprengkörper der RAF vorführen zu lassen.
Nach dem Rücktritt Brandts und der Wahl von Scheel zum Bundespräsidenten wechselte Genscher 1974 unter dem neuen Kanzler Helmut Schmidt ins Außenamt - und wurde gleichzeitig Vizekanzler. Genscher blieb 18 Jahre lang fast ununterbrochen auf seinem Posten und war bei seinem Rücktritt 1992 dienstältester Außenminister. Von Scheel übernahm er auch den FDP-Parteivorsitz, in dem er bis 1980 mit großen Mehrheiten bestätigt wurde.
Die Parteiführung zeichnete sich unter Genscher durch sein Konzept der "Unabhängigkeit" und "Verlässlichkeit" aus. Die Koalition mit der SPD lief nicht ohne Spannungen: Die Liberalen spielten in Abstimmungen, etwa bei der Frage der Arbeitnehmerbeteiligung, wiederholt das Zünglein an der Waage. Das Bild zeigt die SPD-Spitze mit Bundeskanzler Helmut Schmidt (links) und dem Parteichef Brandt (rechts) sowie Genscher im Jahre 1976.
Als Außenminister setzte Genscher in der Entspannungspolitik eigene Akzente. So etablierte er sich als im In- wie Ausland geschätzter Anwalt zwischen Ost und West. Von Beginn an forcierte Genscher eine ausgeprägte Reisediplomatie, allein in den Jahren 1983-1988 brach er zu 245 Dienstreisen auf. Seine entschiedene Entspannungspolitik und die Abwehr einer neuen Raketenrüstung nannte sein amerikanischer Kollege Henry Kissinger (rechts) "Genscherismus".
Zwar zog die FDP in der Bundestagswahl 1980 mit 10,6 Prozent erfolgreich in den Bundestag ein, focht aber Richtungskämpfe bei der Frage um den Nato-Doppelbeschluss aus. Genscher (links) forderte außerdem eine Rückbesinnung auf marktwirtschaftliche Grundsätze in der Finanzpolitik. Nach Helmut Schmidts Absetzung durch das konstruktive Misstrauensvotum trat er 1982, entgegen den Stimmen des linksliberalen FDP-Flügels, im Kabinett Helmut Kohls (rechts) wieder als Außenminister und Vizekanzler in die Regierung ein. Daraufhin verließen FDP-Politiker wie Ingrid Matthäus-Maier und Günter Verheugen aus Protest gegen die Annäherung an die CDU die Partei. Als Folge mussten die Liberalen 1983 bei der Neuwahl herbe Stimmverluste hinnehmen.
Die SZ kommentierte Genschers außenpolitisches Gespür 1992 als "empfindsame Witterung für heranziehende Wetteränderungen": Tatsächlich war er 1983 der erste Außenpolitiker eines Nato-Landes, der für ein Gewaltverzichtsabkommen zwischen Ost und West plädierte. Auch sah er die Chancen der Reformpolitik des neuen starken Mannes in Moskau, Michail Gorbatschow (links), voraus. Gegen die Union setzte er sich für eine "aktive Entspannungspolitik" ein, die den sowjetischen Reformbemühungen entgegenkam. Im Bild unterhält sich Genscher 1992 mit Gorbatschow beim "Europa-Dialog Bonn".
Im Wendejahr 1989 warb Genscher dafür, die Reformprozesse in Ungarn und Polen zu unterstützen. Aus der DDR waren in diesem Jahr Tausende über die ungarisch-österreichische Grenze und Botschaften der BRD in den Westen geflohen. Auch in der westdeutschen Botschaft in Prag, dem Palais Lobkowitz, harrten mehrere tausend DDR-Flüchtlinge aus. Im Spätsommer 1989 sprach Genscher vom Balkon des Palais: Er überbrachte den Wartenden die Nachricht der Ausreisemöglichkeit. Genscher nannte dies einen der Höhepunkte seiner Amtszeit. 20 Jahre später ließ er sich noch einmal auf dem berühmten Balkon ablichten (Bild).
Zusammen mit Bundeskanzler Helmut Kohl trat Genscher 1990 in Gespräche mit den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs. Sein Ziel: Die Wiedervereinigung Deutschlands. Der auch aus Genschers Diplomatie resultierende "2+4-Vertrag" legte 1990 die Einheit Deutschlands fest. Genscher nannte den Vertrag das "am tiefsten bewegende Ereignis" seiner Zeit als Außenminister. Seine Weitsichtigkeit bewies er nicht zuletzt dadurch, dass er die europäische Einbindung Deutschlands betonte. Im November 1990 setzte er die deutsch-polnische Grenze vertraglich fest. Das Bild zeigt Genscher (links) mit Hannelore und Helmut Kohl (Mitte) sowie mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker im Oktober 1990.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands standen für Genscher 1991 neue Reisen als Außenminister an: Angesichts des Jugoslawienkonflikts plädierte er in New York für die Teilnahme der Bundeswehr an UN-Einsätzen und setzte sich für die Anerkennung der Staaten des auseinanderfallenden Jugoslawiens ein. In Slowenien und Kroatien wurde er dafür gefeiert, in Deutschland von der Opposition scharf angegriffen.
Der seinerzeit dienstälteste Außenminister verdankte sein Prestige als beliebtester deutscher Politiker im Ausland einerseits seiner geglückten Entspannungspolitik. Andererseits verstand es Genscher immer, seine zahlreichen internationalen Kontakte auch nach seiner Zeit als Außenminister, ab 1992, aufrechtzuerhalten. Als Ehrenvorsitzender der FDP nutzte Genscher "im Unruhestand", wie der Spiegel es nannte, die Kontakte für Vortragstourneen. Tatsächliche wurde es um Genscher kaum ruhiger: 1994 übernahm er für ein Jahr eine Honorarprofessur für Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Danach stieg der Liberale wieder in den Anwaltsberuf ein und gründete 2000 eine eigenes Beraterunternehmen.
Der "FDP-Übervater" setzte Mitte der neunziger Jahre seine Erfahrungen ein, um die Liberalen im Wahlkampf zu unterstützen. Hatte der aus Halle stammende Genscher nach der Wende noch für zweistellige Wahlergebnisse in den neuen Bundesländern gesorgt, konnte er seiner Partei in den Folgejahren nicht zum Aufschwung verhelfen.
Die FDP habe viel Vertrauen mit der Etikettierung als "Partei der Besserverdienenden" verspielt, sagte der ehemalige Außenminister 1997 der FAZ. Immer wieder brachte sich Genscher in politische Debatten ein. So bezog er 2002 gegen die antiisraelischen Äußerungen des damaligen nordrhein-westfälischen FDP-Vorsitzenden Jürgen Möllemann Stellung und plädierte 2003 nach dem Irakkrieg für die Geschlossenheit mit den USA. Außerdem betonte er die Wichtigkeit der Türkei für die EU: Sie habe eine geopolitisch ausschlaggebende Funktion als Brücke zur islamischen Welt. Im Dezember 2011 forderte er eine verstärkt soziale Ausrichtung der Partei und stärkte FDP-Parteichef Philipp Rösler (links) in seiner positiven Haltung zum europäischen Rettungsschirm ESM.
2013 bliebt die FDP unter fünf Prozent und war erstmals nicht im Bundestag vertreten - eine Katastrophe für die Partei. Genscher rechnete daraufhin mit den liberalen Lenkern der letzten Jahre ab, er kritisierte Inhaltsleere und eine "unwürdige" Zweitstimmenkampagne. Seine Kritik empfanden nicht wenige Freidemokraten als ungerecht.
Genscher sorgte noch zweimal für Schlagzeilen: Einmal Ende 2013, als er mit dem Segen der Bundesregierung half, den russischen Regimekritiker Michail Chodorkowski aus dem Gefängnis zu holen. Außerdem reiste er im September 2014 nach Prag, wo an seinen größten Auftritt erinnert wurde: 25 Jahre zuvor hatten tausende DDR-Flüchtlinge auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft campiert - bis Genscher als Außenminister deren Ausreise verkündete. Die Jubelbilder gingen um die Welt. Im Bild: Genscher 2014 auf dem Prager Botschaftsbalkon mit dem tschechischen Außenminister Lubomir Zaoralek (li) und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier.
Der Liberale war seit vielen Jahren gesundheitlich schwer eingeschränkt und wurde immer wieder am Herzen behandelt. Nun starb er im Alter von 89 Jahren. Das Bild zeigt Genscher mit seiner Frau Barbara in Bayreuth zu den Richard-Wagner-Festspielen im Jahr 2010.