Merkel:Glanzzeit der Kanzlerin

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Merkel erntet in Harvard eine Form des Beifalls, der nahe dran ist an der politischen Heiligsprechung. Die Kanzlerin erlebt die schönsten Monate ihrer Amtszeit. Bei all dem gibt es nur einen Haken: Die CDU profitiert davon nur noch am Rande.

Kommentar von Stefan Braun, Berlin

Manchmal ist der Lauf der Geschichte kaum auszuhalten für Politiker, im Schlechten wie im Guten. Niemand weiß das besser als Angela Merkel. Im Sommer und Herbst 2015 war sie der festen Überzeugung, dass sie in der Flüchtlingskrise richtig, weil menschlich und weltzugewandt handelte, doch sie erntete nur für sehr kurze Zeit Lob und Zuspruch.

Danach brach sich eine Welle des Protestes Bahn, die in Hasstiraden auf ostdeutschen Marktplätzen ihren schwer erträglichen Höhepunkt erreichte. Das war im Wahlkampf 2017. Merkel musste in jenen Monaten lernen, dass Politik und Verantwortung noch schlimmer wehtun können, als sie es je für möglich gehalten hätte.

Merkel in Harvard
:Eine Rede wie ein politisches Vermächtnis

Bundeskanzlerin Merkel spricht an der Universität Harvard, und vieles könnte man als Spitzen gegen Trump lesen. Aber das ginge am Thema vorbei. Ihr geht es um das wirklich Große und Ganze.

Von Christian Zaschke

Zwei Jahre später steht sie vor Hunderten Absolventen der hoch geschätzten US-amerikanischen Universität Harvard und wird bejubelt und gefeiert. Sie redet über Lüge und Wahrheit. Sie wirbt für Multilateralismus statt Nationalismus. Sie empfiehlt Zusammenarbeit statt Ausgrenzung - und erntet eine Form des Beifalls, der nahe dran ist an der politischen Heiligsprechung. Und als Krönung erhält sie den Ehrendoktortitel, ausdrücklich verliehen für ihren ausgeprägten Pragmatismus und ihre Entscheidungen während der Flüchtlingskrise. Merkel hat schon viele Wechselbäder erlebt in ihrer Karriere; gleichwohl dürfte dieses zu den größten gehören.

Der rauschhafte Moment von Harvard reiht sich ein in eine Phase, die wohl für Angela Merkel die schönste ihrer Amtszeit ist. Sie kümmert sich nur noch um die ganz großen Fragen wie das Klima, die Flüchtlingsströme, die Machtverschiebungen auf der Erde. Sie liefert dazu Auftritte, die man sich in dieser Klarheit schon vor Jahren gewünscht hätte. Mal wirbt sie im Bundestag für die Kraft der Kompromisse, um Europa zu retten. Mal erklärt sie in einer Synagoge, welche Bedrohungen vom neuen Rechtsradikalismus ausgehen. Und dann hält sie zum 100. Jahrestag des Frauenwahlrechts ein derart launiges Loblied auf die Frauenbewegung, dass die Zuhörerinnen staunen - und sich fragen, warum Merkel nicht schon früher so entschieden gekämpft hat.

Wer also wissen möchte, wie diese Kanzlerin in großen Fragen denkt und fühlt, kann sie seit ihrem Verzicht auf den CDU-Vorsitz noch einmal neu studieren. Dabei wirkt sie nicht wie eine "lahme Ente", die ihrem Abschied entgegentorkelt. Merkel scheint souverän über allem zu schweben, was früher für sie vor allem Mühsal bedeutet hätte.

Zugleich aber verstärkt der Auftritt von Harvard die Diskrepanz zwischen der Kanzlerin und der neuen CDU-Chefin. Während Merkel die Ernte einfährt für Gesten und Botschaften, in denen sie kaum noch CDU ist, aber umso mehr Weltenlenkerin sein darf, muss Annegret Kramp-Karrenbauer schwer kämpfen. Kramp-Karrenbauer ist es, die im Namen der CDU die beinharte Kritik der Jungen an der wenig existenten Klimapolitik der Regierung einsteckt, während Merkels Versäumnisse allenfalls am Rande erwähnt werden. Kramp-Karrenbauer ist es, die parteiintern die Gräben zuzuschütten versucht, die einst durch Merkels Flüchtlingspolitik aufgeworfen wurden. Dass Kramp-Karrenbauer inzwischen massiv in der Kritik steht, hat sie zuallererst sich selbst zuzuschreiben. Aber die neue Rollenverteilung zwischen Kanzlerin und CDU-Chefin dürfte das Leben der Neuen noch einmal dramatisch erschwert haben.

Wie lange kann das so weitergehen? Das Chaos bei der SPD, die Pannenserie der CDU - man muss keine große prophetische Gabe besitzen, um zu ahnen, dass schon Anfang der kommenden Woche eine wackelige Koalition zu einer auseinanderbrechenden werden könnte. Damit stellt sich auch die Frage, ob und, wenn ja, wie diese Kanzlerin zu Hause in Berlin, in den Untiefen der Innenpolitik, einen Versuch startet, die Koalition zusammenzuhalten. Sollte sie das nicht tun, könnten aus den schönsten Wochen ihrer Amtszeit alsbald ihre letzten im Amt werden.

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