China-Besuch:Merkels Reise in die Zukunft

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Folklore fürs Foto: Angela Merkel besuchte bei ihrer Chinareise vor drei Jahren den früheren Kaiserpalast in Shenyang im Nordosten Chinas. (Foto: imago/Xinhua)
  • Bei ihrem zwölften Besuch in China will Angela Merkel verstehen, welche Chancen die Kooperation mit dem Riesenland bietet und wo Gefahren lauern.
  • Dazu besucht sie nicht nur Peking, sondern auch die Provinzen. Selten reist sie mit übergroßen Erwartungen an, aber immer hat sie leise Hoffnungen im Gepäck.
  • Diesmal scheint es sicher zu sein, dass Merkel auch die Situation in Hongkong ansprechen wird.

Von Stefan Braun, Berlin

Dieses Mal sind es die Kranken von Wuhan, die Angela Merkel interessieren. Die Patienten, die Pfleger, die Ärzte und alles, was in dem Krankenhaus passiert. Was es gibt an technischer Ausstattung; wie viel Zeit bleibt für die Pflege; was man erfahren kann über den Einsatz digitaler Datenverarbeitung. Und dazu kommt natürlich die Frage, wie sich die Kooperation mit Deutschland dort entwickelt. Die Kanzlerin fährt nach China, und das, was neben den üblicherweise wichtigen Gesprächen hängen bleiben dürfte, wird das Krankenhaus von Wu'an sein.

Merkel setzt damit fort, was für sie selbstverständlich geworden ist, wenn sie nach China aufbricht. Sie fährt nicht nur nach Peking, sondern auch in die Provinzen. Sie spricht nicht nur mit der Staatsführung, sondern auch mit möglichst vielen Menschen. Merkel saugt regelrecht auf, was sie über die Gesellschaft und die Geschichte, über Pekings laut vorgetragene Ansprüche und seine gar nicht laut ausgesprochenen Sorgen erfahren kann. Das bevölkerungsreichste Land der Erde ist für die Kanzlerin längst zu einem ganz eigenen Forschungsgebiet geworden.

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Vor zehn Jahren hoffte Merkel, dass sich das Land politisch öffnen könnte

Zum zwölften Mal reist sie hin, das ist rekordverdächtig für einen Staat, der nicht in der EU liegt. Aber das ist nur logisch. Wirtschaftlich ist China längst eine Weltmacht; politisch dürfte es das über kurz oder lang werden. Deshalb stellen sich Merkel und viele in Berlin und Brüssel die Frage, ob die EU zwischen den USA und China auf Dauer überhaupt noch eine Rolle spielen wird - oder schwächelt und schrumpft und irgendwann abstürzt.

Umso mehr ist die Kanzlerin bestrebt, nicht nur die immer ähnlichen offiziellen Gespräche zu führen. Sie will verstehen, was es dort an Chancen gibt und welche Gefahren lauern; sie will vorbereitet sein auf das, was von diesem Land in Zukunft ausgeht. Dabei begleiten sie Faszination und Entsetzen gleichermaßen. Faszination wegen der Geschichte und Tradition und wegen der Geschwindigkeit und Energie bei den Veränderungen, vor allem bei der Digitalisierung. Dazu aber kommt das Entsetzen über ein immer autoritärer handelndes Regime, das sich spätestens seit dem Parteitag der KP Chinas 2017 zu einer Alleinherrschaft des Präsidenten entwickelt.

Vor einem knappen Jahrzehnt hatte die Kanzlerin noch die Hoffnung, das Land werde sich parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung politisch öffnen. In einer Diskussion an der Kaderschmiede der Kommunistischen Partei hatte sie, das war 2010, nicht nur über Geld, Finanzkrise und Weltwirtschaft gesprochen. Sie redete auch über die Vorteile wettstreitender Ideen. Die Demokratie, so Merkel damals, profitiere von der Konkurrenz der Gedanken und Vorschläge, und genau das schaffe das für eine wirklich kreative Wirtschaft offene Klima in der Gesellschaft. Außerdem, erklärte Merkel dem Parteinachwuchs, würden sich die Interessen auf lange Sicht auch durch Machtwechsel ausgleichen. Umso mehr frage sie sich, wie ein Einparteienstaat all dies überhaupt leisten könne.

Damals schienen manche Studenten nachdenklich zu werden; heute weiß man, dass sich in China ein ganz anderes Denken durchgesetzt hat. Jedenfalls an der Partei- und Staatsspitze. So hat sich Präsident Xi auf dem Parteitag der KP 2017 eine nahezu allumfassende Macht gesichert.

Das freilich hat Merkel nicht gehindert, bei ihren Visiten die Augen weit aufzumachen. Mal besuchte sie einen riesigen Gemüsemarkt in Chengdu, um bei den Bauern nicht nur Gewürze für zu Hause zu erwerben, sondern sich auch ein bisschen was erzählen zu lassen über die Lebensumstände. Dabei stellte sie schmunzelnd fest, dass die Ausstattung der Bauern mit modernsten Digitalkameras deutlich besser war als die der mitgereisten Journalisten. So wurden bei dieser Visite nicht die Gastgeber, sondern die Gäste zum Objekt größten Interesses.

Ein Gespräch mit Bürgermeistern offenbarte die wahren Probleme

Ein andermal reiste sie in die Wirtschaftsmetropole Shenzen, um sich zeigen zu lassen, in welchen Ausmaßen schnell wachsende Start-ups mit den Gesundheitsdaten von Millionen Kunden Milliarden verdienen. Dann wieder ließ sie sich nach Shanghai fliegen, um sich - begleitet und angeleitet von den örtlichen Parteioberen - über gigantische Stadtbebauungspläne zu beugen. Dazwischen nahm sie sich eine Kochstunde in Sichuan, wo die chinesische Küche besonders berühmt ist. Und sie reiste zur berühmten Terrakotta-Armee in Xian, um diese Phase der chinesischen Geschichte kennenzulernen. Ideen und Stoff für neue Reisen, neue Erfahrungen, neue Erkenntnisse sind ihr bis heute nie ausgegangen.

Die eindrücklichste Erfahrung allerdings sammelte sie wahrscheinlich im Jahr 2010, als sie das chinesische Protokoll mit einem Sonderwunsch komplett aus der Bahn warf. Weil Merkel während der Reise Geburtstag hatte und Peking ihr einen Gefallen tun wollte, bat sie um ein Abendessen mit fünf Bürgermeistern. Was vollkommen unüblich war, wurde ungewöhnlich spannend.

Merkel fragte die fünf Herren, jeder ein Stadtoberhaupt über mindestens zehn Millionen Menschen, mit welchen Sorgen sie abends ins Bett gehen und mit welchen sie am nächsten Morgen aufwachen würden. Das Ergebnis: Durch die Bank berichteten die verdutzten Herren über verheerende Luftverschmutzung, katastrophale Verkehrsverhältnisse, eine zunehmend miserable Versorgung mit Grundwasser - und das rasant wachsende Problem, gut ausgebildeten jungen Menschen nicht genügend gute Jobs anbieten zu können. Mit einem Mal lag offen auf dem Tisch, dass China nicht nur groß und mächtig geworden ist, sondern auch gravierende, manchmal bedrohliche Probleme mit sich selbst hat.

Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Merkel selten mit übergroßen Erwartungen anreist, aber immer leise Hoffnungen im Gepäck hat. China dominiert vieles, aber es hat auch Probleme. Das ist bei allem zur Schau gestellten Selbstbewusstseins Pekings auch dieses Mal nicht anders. Der Handelsstreit mit den USA gefährdet das für die Befriedigung der wachsenden Ansprüche in der eigenen Gesellschaft dringend nötige Wirtschaftswachstum. Und der Konflikt um Hongkong wird für Peking dann zum Problem, wenn die für China immens wichtige EU - beispielsweise durch fatale Bilder der Aggression - an Chinas Verlässlichkeit und Integrität zweifeln würde. Das mag beim Verkauf von Autos keine Rolle spielen. Aber in den nächsten Jahren wird es für europäische und deutsche Firmen vor allem darum gehen, ob sie sich auf eine wirklich enge, durch die Digitalisierung zutiefst verzahnte Kooperation mit chinesischen Firmen einlassen - oder ob sie sich am Ende doch wieder Amerika zuwenden.

Amerikas Botschafter gibt Merkel auf Twitter Ratschläge für ihre Gespräche

Längst zeichnet sich gerade im Kampf um Macht und Einfluss im Internet eine Schlacht ab, die viele Europäer zwingen könnte, sich zwischen China und den USA zu entscheiden. Kommt es dazu, könnte sich selbst ein starkes China kaum leisten, alle Europäer zu verlieren. Aus diesem Grund kann Hongkong eine große Rolle spielen. Dass die Führung dort das umstrittene Auslieferungsdekret nun zurückgezogen hat, könnte ein Indiz dafür sein, dass Peking einen Konflikt vermeiden möchte.

Entsprechend wird Merkel das Thema ansprechen. So viel scheint sicher zu sein. Selbst die deutsche Wirtschaft hat das am Donnerstagmorgen gefordert. Dabei allerdings wird sich die Kanzlerin eher von den offenen Hilferufen aus Hongkong leiten lassen als vom jüngsten Tweet des US-Botschafters. Richard Grenell hatte in kraftstrotzender Art zur Kanzlerin-Reise erklärt, "business as usual" gehe nicht mehr, jetzt müssten Menschenrechte Vorrang haben. Sagt der Botschafter Donald Trumps.

© SZ vom 06.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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