Menschenrechte:Abwehrreflexe

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Ein russischer Soldat trägt 2004 ein Baby aus einer besetzten Schule im nordossetischen Beslan. Bei der Geiselnahme sterben mehr als 330 Menschen. (Foto: Viktor Korotayev/Reuters)

Russland geht auf Distanz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Auch anderswo rumort es. Konservative und Populisten ärgern sich über die Einmischung des Gerichts.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Es ist in letzter Zeit unablässig vom drohenden Exit aus dem europäischen Projekt die Rede, dabei geht es um die politische Bedeutung der gemeinsamen Währung. Derweil zieht im Schatten der Griechenland-Diskussion ein weiteres Exit-Szenario herauf, das mit den Menschenrechten zu tun hat, einer Währung, die für Europa nicht minder zentral ist. Das russische Verfassungsgericht in Sankt Petersburg geht auf Distanz zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Dessen Urteile sollen nicht mehr umgesetzt werden, wenn andernfalls eine "Verletzung grundlegender Prinzipien der Verfassung" droht.

Anlass war ein EGMR-Urteil, das den Aktionären des zerschlagenen Ölkonzerns Yukos eine Entschädigung von fast zwei Milliarden Euro zugesprochen hatte. Moskau hatte die Zahlung verweigert. Ganz überraschend kam das Urteil daher nicht.

Allerdings hat die harsche Reaktion der russischen Richter einen langen Vorlauf - und ist auf ungute Weise mit dem deutschen Verfassungsgericht verquickt. Schon vor fünf Jahren hatte der russische Verfassungsgerichtspräsident Walerij Sorkin über einen Abwehrmechanismus gegen Urteile nachgedacht, die - nach seiner Lesart - die Souveränität Russlands gefährden; Russland steht in der Straßburger Verurteilungsstatistik stets ganz weit oben. Ausgerechnet in einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 2004 glaubte er ein schlagendes Argument gefunden zu haben. Damals, im Fall Görgülü, justierte Karlsruhe sein Verhältnis zu Straßburg. Und formulierte den verhängnisvollen Satz: "Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität." Weshalb es "ausnahmsweise" zulässig sein könne, die Menschenrechtskonvention nicht zu beachten.

Zwar hat sich, Ironie der Geschichte, das Bundesverfassungsgericht seither vorbildlich bemüht, die Urteile des Menschenrechtsgerichts umzusetzen. Doch das Wort von der Sperrwirkung der Souveränität war in der Welt, bereit, absichtsvoll missdeutet zu werden. "Wer nach Argumenten sucht, um der Bindung an die Menschenrechtskonvention zu entgehen, findet in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchaus Material", sagt der Rechtsprofessor Franz Mayer. Und das russische Verfassungsgericht belässt es nicht beim Fall Yukos: "Der föderale Gesetzgeber hat das Recht, für das Verfassungsgericht einen spezifischen Mechanismus zu schaffen, um den Vorrang der Verfassung zu gewährleisten", heißt es dort. Klarer kann man eine Einladung für ein Anti-Straßburg-Gesetz nicht formulieren.

Die Briten ärgerten sich über Urteile gegen die Abschiebung von Hasspredigern

Der Europarat, unter dessen Dach der Gerichtshof agiert, zeigt sich jedenfalls "tief besorgt". Eine "selektive Umsetzung" der Urteile würde die Europäische Menschenrechtskonvention unterminieren, warnt Anne Brasseur, Präsidentin der Parlamentarischen Versammlung. Ob es wirklich zu einem Bruch mit Russland kommt, wird man abwarten müssen. Bisher hat Russland die Urteile aus Straßburg hingenommen und Entschädigungen anstandslos bezahlt. Im Yukos-Urteil spricht das Verfassungsgericht immerhin auch von konstruktiver Zusammenarbeit. Und die Sogwirkung der russischen Absetzungsbewegung dürfte gering sein. Der Spruch sei eher innenpolitisch bedingt, "einen Dominoeffekt für die anderen osteuropäischen Verfassungsgerichte sehe ich nicht", sagt Rechtsanwalt Ulrich Karpenstein, Kommentator der Menschenrechtskonvention.

Ein Sonderfall im Putinstaat also - aber eben nicht die einzige Baustelle des Straßburger Gerichts. In Großbritannien treiben die konservativen Tories Pläne voran, um die "unnötige Einmischung" des EGMR zu unterbinden. Auf der Insel war man erbost über Urteile gegen die Abschiebung sogenannter Hassprediger. Zudem hatte der Gerichtshof das pauschale Wahlverbot für Gefängnisinsassen beanstandet, was ebenfalls zu heftigen Protesten führte. Ob sich die Straßburg-Gegner durchsetzen, ist offen - doch ein Ausstieg der Briten aus dem europäischen Menschenrechtsschutz wäre der größte anzunehmende Unfall.

Auch anderswo rumort es. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) fordert ein Volksbegehren, das zur Kündigung der Menschenrechtskonvention führen könnte. Die Rechtspopulisten haben sich unter anderem über den gerichtlichen Stopp der "Ausschaffung" straffälliger Ausländer echauffiert. Und in Frankreich hat vor Kurzem die neuerdings in Republikaner umbenannte UMP einen - gescheiterten - Vorstoß gegen den EGMR unternommen. Es ging um das Reizthema Leihmutterschaft.

Dabei ist der Gerichtshof bei Eingriffen in die nationale Domäne der Staaten eher zurückhaltend. Zentraler Bestandteil vieler Urteile ist der "margin of appreciation" - der eigene Beurteilungsspielraum der Staaten. Anfang Juni etwa, im spektakulären Fall des Wachkoma-Patienten Vincent Lambert, gewährte er der französischen Justiz beim Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen ausdrücklich einen großen Spielraum - weil in dieser Frage kein Konsens unter den 47 Staaten des Europarats herrscht, für die das Gericht zuständig ist. Dass es dieses Instrument bisweilen nutzt, um Konflikte zu entschärfen, ließ sich vor Jahren beim erbitterten Streit um die Kruzifixe in italienischen Klassenzimmern beobachten. 2009 hatte der Gerichtshof hier eine Verletzung der Menschenrechte moniert - doch zwei Jahre später korrigierte die Große Kammer das Urteil. Religiöse Erziehung sei Sache der Staaten.

Der Kern des Problems dürfte - vom Sonderfall Russland einmal abgesehen - eher in den nationalen Tendenzen liegen, wie sie europaweit zu beobachten sind. Der Gerichtshof dringt als gleichsam von außen kommender Akteur auf einheitliche Mindeststandards bei den Grundrechten - und urteilt dabei immer wieder über sensible Themen, welche die Abwehrreflexe verunsicherter Gesellschaften auslösen. Ausländer, Religion, Sterbehilfe, moderne Reproduktionstechniken, neue Lebensformen: In den Händen von Populisten können solche Fragen eine beträchtliche emotionale Sprengkraft entfalten.

Stehen dem Gericht schwere Zeiten bevor? Eigentlich ist es gerade dabei, sich freizuschwimmen: Mit beeindruckender Konsequenz hat man einen riesigen Berg anhängiger Verfahren auf knapp 64 000 abgetragen; 2011 waren es mehr als 150 000. Die Entlastung schafft Freiraum für Urteile, die namentlich in den Staaten der europäischen Peripherie von überragender Bedeutung sind. Dort ist Straßburg oft die einzige Chance auf Rechtsschutz.

© SZ vom 17.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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