Mafia in Italien:Turbokapitalisten im Mezzogiorno

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Blick auf das Reich der Camorra: Neapel mit dem Vesuv im Hintergrund (Foto: Ciro Fusco/dpa)

Die Mafia in Italien ist nicht mehr die dunkle Seite der Politik und des Geschäfts, sie ist nun Teil der Politik und des Geschäfts. Nicht durch Zufall verdient sie am Turbokapitalismus in Süditalien prächtig mit.

Gastbeitrag von Mario Fortunato

Es ist nicht gesagt, dass man einen Ort besser versteht, nur weil man dort geboren ist; vermutlich trifft eher das Gegenteil zu. In bestimmten Fällen muss man erst richtigen Abstand finden, um zu verstehen. In Bezug auf meine Heimat, Kalabrien, habe ich dafür vierzig Jahre gebraucht - was zumindest eine gewisse Langsamkeit verrät.

Als ich in Kalabrien lebte, war ich noch ein Junge und neigte zu Realitätsferne. Ich hatte nicht das geringste Interesse an dem Thema, an das man nun in Verbindung mit meiner Heimat als Erstes denkt: an die Mafia - hier in ihrer speziellen Variante, der 'Ndrangheta. Was ich wahrnahm, war die bei Jung und Alt verbreitete Arbeitslosigkeit und ihre unvermeidliche Konsequenz, die Armut. Doch wer realitätsfern ist, tendiert dazu, die Dinge zu vereinfachen.

Die Landwirtschaft verkommt, Industrieanlagen sind abgerissen

So nahm ich an, die Mafia in Kalabrien und Süditalien generell wäre, zumindest hinsichtlich ihres Ausmaßes, nichts anderes als eine Antwort auf den Mangel an Arbeitsplätzen. Ich irrte mich. Oder besser, ich war zu optimistisch. Und es dauerte einen guten Teil meines Lebens, bis ich das begriff.

Aktuell liegt die Gesamtarbeitslosigkeit im Mezzogiorno Italiens bei 27 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt knapp 61 Prozent. Es ist unübersehbar, dass die Landwirtschaft verkommt. Die wenigen Industrieanlagen sind abgerissen, die Bauwirtschaft siecht vor sich hin. Der Tourismus der Region war im Dienstleistungsbereich seit jeher unzulänglich, scheint nun auf das Minimum reduziert zu sein - wenn es dem Süden stets an effizienter Organisation fehlte, so war er früher wenigstens wirklich billig.

Zum Ausgleich, heißt es, könnte das kulturelle Erbe für die örtliche Wirtschaft zu einer Art Erdöl werden. Dem würde man gerne zustimmen. Doch inzwischen verfällt selbst Pompeji vor aller Augen, die Museen verwahrlosen, und die historischen Zentren kleiner und mittlerer Städte versinken unter Bergen von Müll. Hinzu kommt noch die humanitäre Katastrophe, die verharmlosend Einwanderung genannt wird. Hunderte arme Teufel machen sich jeden Tag auf den Weg an die Küsten Kalabriens und Siziliens.

Sie stehen vor der Wahl, sich entweder in eines der Aufnahmelager einsperren zu lassen, oder lieber gleich im azurblauen Meer unterzugehen, um sich so vielleicht einen Mitleids-Blumenkranz zu sichern.

Ich neige dazu, die Politik als Nebenprodukt der Geschichte zu betrachten. Es liegt an meinem Alter und an meinem Beruf, dass ich mich mehr mit der Vergangenheit als mit Gegenwart oder Zukunft befasse, schon deshalb, weil die Vergangenheit viel reicher erscheint. Heute scheint es, als habe man die Geschichte im Süden Italiens abgeschafft, als seien die letzten Spuren der Zivilisation dabei, endgültig zu verschwinden, und das liegt auch an der Art, wie dort Politik betrieben wird.

Noch bis vor einigen Jahrzehnten stellte die Mafia in ihren Varianten von Camorra, 'Ndrangheta und Sacra Corona eine Form sozialer Stabilität in Italiens Süden dar. Der Zentralstaat funktionierte schlecht und auf widersprüchliche Weise, während die Mafia den Bedürftigen Schutz und Hilfe bot.

Noch nie wurde gegen Politiker Süditaliens so umfassend ermittelt

Das setzte voraus, dass der Staat - wie schwach, unaufmerksam oder feindselig auch immer - als Gegenüber gesehen wurde. So konnten die kriminellen Organisationen ein zu diesem Staat paralleles Netz von Beziehungen knüpfen, das auf soliden kapitalistischen Prinzipien beruhte. Der Mafia war es erlaubt, Profite zu erwirtschaften, solange sie als Gegenleistung für den sozialen Frieden in der Region sorgte.

Dieses Schema, das in den Nachkriegsjahrzehnten in einem Politiker wie Giulio Andreotti von der Democrazia Cristiana seinen weitsichtigsten Vertreter fand, scheint heute ausgedient zu haben. Noch nie wurde gegen die politische Klasse Süditaliens so umfassend ermittelt wie in unseren Tagen.

Vor zwei Jahren erst hat die Regierung in Rom den Stadtrat von Reggio Calabria aufgelöst, der größten Stadt Kalabriens - zu schwer wog der Verdacht, dass zahlreiche Parlamentarier eng mit der Mafia verbunden waren. Selbst im Norden, in der Lombardei, hat die 'Ndrangheta ihre Agenten in der Politik. Noch nie standen Teile der italienischen Politik der organisierten Kriminalität so nahe.

Ich sage "nahestehen" - obwohl der Begriff ein ungenauer Ausdruck ist. Der Begriff des Nahestehens kommt nicht ohne Unterscheidung aus. Man mag sich - wenn man "nahestehen" als räumliche Nachbarschaft versteht, den Gouverneur einer süditalienischen Region vorstellen, der mit einem Mafioso dieselbe Zelle teilt. Oder eben den Mafioso und den Gouverneur, die auf verschiedenen Wegen gleiche Ziele verfolgen.

In Wirklichkeit aber, das zeigen die abscheulichen Schlagzeilen der vergangenen zehn Jahre, sind der Mafioso und der Politiker in Kalabrien inzwischen miteinander identisch. Die Mafia kann mittlerweile auf eine institutionelle Repräsentation verzichten. Sie ist ja jetzt selber die Institution. Sie ist die einzige Institution auf dem Markt, die von allen gleichermaßen anerkannt wird, sei es im Inhalt, sei es in der Form.

Derart anerkannt, dass sogar die Kirche gezwungen war, ihr - wenn es um die Mafia geht - über Jahrzehnte dauerndes Schweigen zu brechen: Papst Franziskus hat die Mafiosi für exkommuniziert erklärt. Doch noch immer führt manche Marienprozession am Haus des örtlichen Mafiabosses vorbei, um ihm die Ehre zu erweisen.

Die Politik hat ihren Ruf verspielt

Und so ist auch die Politik nicht mehr die alte. Sie ist darin gescheitert, Kalabrien gut zu regieren, die Region zu entwickeln, die Korruption zu bekämpfen. Sie hat nun ihren Ruf gänzlich verspielt, indem sie Städte und Regionen unmittelbar in Namen und Interesse der einzigen verbliebenen Macht, nämlich der Mafia, regiert. Nur so lassen sich die beständigen Skandale verstehen, die Italien heimsuchen.

Die Mafia ist nicht mehr die andere, dunkle Seite der Politik und des Geschäfts, sie ist Teil der Politik und des Geschäfts. Die zwanzig Jahre unter Berlusconi mit ihrer Vermischung von Staatsangelegenheiten und privaten Geschäften dürften dabei eine tragende Rolle gespielt haben. Und nicht aus Zufall ist die Mafia auch Teil des Turbokapitalismus, der die Region heimsucht.

Die 'Ndrangheta ist führend im weltweiten Drogengeschäft - der Hafen von Gioia Tauro ist ihr wichtigster Umschlagplatz. Sie handelt mit Waffen und Menschen, betreibt illegale Müllhalden und wäscht Geld. Sie ist in der Bauwirtschaft und im Gesundheitswesen angekommen. Sie ist ein großes Unternehmen, mit angeblich 53 Milliarden Euro Umsatz im Jahr.

Nur so versteht man den Turbokapitalismus, der im Mezzogiorno triumphiert. Denn was sonst ist die Schattenwirtschaft der Mafia, wenn nicht eine okkulte Form dieses überdrehten Kapitalismus?

© SZ vom 29.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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